Wir schreiben das Jahr 1960. Das noble Gästehaus des Ministerrates der DDR im beschaulichen sächsischen Kurort Gohrisch hat hohen Besuch: Dmitri Schostakowitsch ist hier für eine knappe Woche zu Gast. Eigentlich soll er die Filmmusik für den Propagandafilm „Fünf Tage – fünf Nächte“ verfassen, der die Auslagerung Dresdner Kunstschätze durch die Rote Armee zum Thema hat. Der russische Komponist bringt dann doch sehr viel persönlicheres zu Papier: sein achtes Streichquartett. Schostakowitsch ist deprimiert, er verfasst in düsterer Stimmung quasi sein eigenes Requiem. In einem seiner Briefe heißt es: „Wie sehr ich auch versucht habe, die Arbeiten für den Film im Entwurf auszuführen, bis jetzt konnte ich es nicht. Und stattdessen habe ich ein niemandem nützendes und ideologisch verwerfliches Quartett geschrieben. Ich dachte darüber nach, dass, sollte ich irgendwann einmal sterben, kaum jemand ein Werk schreiben wird, das meinem Andenken gewidmet ist. Deshalb habe ich beschlossen, selbst etwas Derartiges zu schreiben.“
Die deutsche Schostakowitsch-Gesellschaft war vom neu gegründeten Verein Schostakowitsch in Gohrisch e.V. eingeladen worden, ihre Plenarsitzung direkt im ehemaligen Gästehaus, das heute ein Hotel ist, abzuhalten. Gleichzeitig fanden unter der Schirmherrschaft des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich die ersten Schostakowitsch-Tage statt. Das achte Streichquartett des Komponisten gelangte ebenso zur Aufführung wie der nämliche Film „Fünf Tage – fünf Nächte“; auch Irina Schostakowitsch, die dritte Ehefrau des Komponisten, war da. Ein ganz besonderer Termin war schon der Eröffnungsabend: da fand die Uraufführung des dreizehnten Streichquartetts von Krzysztof Meyer statt. Martin Morgenstern hat mit dem polnischen Komponisten gesprochen.
Meyer hielt den Eröffnungsvortrag der Schostakowitsch-Tage (Foto: Matthias Creutziger)
Nach einem zeitgenössischen Komponisten gefragt, antwortet jeder Russe sofort: Schostakowitsch. Der ist ja nun streng genommen seit 35 Jahren kein Zeitgenosse mehr. Was macht heute die Faszination der Figur Schostakowitsch aus?
Es gibt verschiedene Gründe, musikalische wie gesellschaftliche. Für die einen war er ein Vertreter des Sozialistischen Realismus, ein Staatskomponist. Für die anderen war er Opfer eines totalitären Systems. Im Westen wusste man bis zum Erscheinen der von Solomon Wolkow niedergeschriebenen „Memoiren“ nicht ganz genau: ist er wirklich parteitreu oder ein Dissident? Die Figur Schostakowitsch und ihre Rolle im System war und ist für viele nicht eindeutig.
Für viele Menschen stellt Schostakowitsch ja heute den äußersten Vorposten der musikalischen Erträglichkeit dar. Seine Musik ist „gerade noch hörbar“, bevor die musikalische Landschaft endgültig in Kakophonie abgleitet. Was fehlt der heutigen zeitgenössischen Musik, um für mehr als ein Häuflein Zuhörer interessant zu sein?
Die Situation der modernen Musik… Dieses Streben nach avantgardistischen Mitteln, das mag für viele Musiker interessant sein, ist es aber nicht für ein breites Publikum. Das sucht nach Tonalität und freut sich, wenn die Musik harmonisch klingt. Schostakowitschs Musik ist melodisch, sie ist oft tonal oder höchstens modal, sicher nicht das, was man pauschal als moderne Musik bezeichnen würde. „Moderne“ – das ist Stockhausen, das ist Rihm, das ist Lachenmann. Die Leute sind satt von diesen Experimenten. Sie wollen das einfach nicht hören.
Sie erwähnten Solomon Wolkows umstrittenes Buch „Testimony“ (auf deutsch: „Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch“). Ich war erstaunt, dass dieses brisante Buch in Russland offenbar überhaupt niemand kennt.
„Testimony“ erschien tatsächlich in vielen Sprachen – nur eben nicht auf Russisch. Wissen Sie, das ist ein Apokryph. Die Fakten sind größtenteils richtig, aber das Buch ist nicht von Schostakowitsch. Ich kann und möchte das Buch nicht verurteilen, ganz im Gegenteil: Es hat eine enorme Rolle für das Verständnis seiner Musik gespielt, war aber auch politisch wichtig. Die Leute im Westen haben aus diesem Buch erfahren, unter welchen Bedingungen russische Künstler lebten, wie sie vom System geknebelt wurden. Die Rolle dieses Buches kann man folglich nicht überschätzen. Der heikle Punkt: es ist von Wolkow. Russen, die dieses Buch läsen, würden das sofort feststellen.
Aus westlicher Sicht bleibt trotzdem unverständlich, warum russische Kulturwissenschaftler dieses wichtige literarische Zeugnis ignorieren. Mir scheint, die Schostakowitsch-Forschung in Ost- und Westeuropa geht völlig getrennte Wege, man publiziert aneinander vorbei und redet über völlig verschiedene Dinge.
Sie haben völlig Recht, und übrigens nicht nur, was Schostakowitsch betrifft. Die politischen Grenzen sind Gott sei Dank gefallen, aber: die kulturellen Traditionen bewegen sich nach wie vor in nationalen Grenzen, ob nun in der Musik, der Literatur oder der Malerei. Einer der größten französischen Komponisten, Henri Dutilleux, wird sehr wenig in Deutschland gespielt. Anders herum ist es mit Henze: hier hat er größte Bedeutung, in Frankreich wird er selten aufgeführt. Die Leute im Westen suchen in der Musik von Dmitri Schostakowitsch einfach etwas ganz anderes als die Russen. Russen wissen viel mehr über seine Musik. Sie hat verschiedene Elemente, die man hier nicht verstehen kann. Man muss etwa die politische Geschichte verinnerlicht haben, die revolutionären Lieder kennen, die Schostakowitsch so gerne zitiert.
Mit Kompositionen gegen ein System anzugehen – diesen Lebenssinn verloren mit dem Fall der Mauer auch viele DDR-Komponisten. Als auf einmal der wesentlichste Reibungspunkt ihres künstlerischen Schaffens fehlte, hörten viele ganz auf zu komponieren. Ein Verlust?
Das stimmt, und es ist eine große Tragödie für jeden einzelnen Künstler. Wir haben es mit einem großen Unterschied zwischen den Systemen zu tun. Im Sozialismus gab es Gelder für politisch korrekte Komponisten; die hatten immer Stipendien und keine Not, an Aufträge zu kommen. Heute sind die rar und relativ demokratisch verteilt. Es ist ein skrupelloses System, in dem nur die begabtesten, fleißigsten Tonkünstler eine Existenzmöglichkeit haben. Aber ich frage auch vorsichtig: Braucht man wirklich Künstler, die nicht sehr begabt sind?