"Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren", hieß der Satz, den Gorbatschow 1989 warnend sprach, und der später von einem Berichterstatter in die griffige Formulierung "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" gegossen wurde. Der nach Marta Fraenkel benannte Tagungssaal des Hygienemuseums atmete am Sonntag Vormittag Zeitgeschichte, spätestens als Benedikt Stampa, Intendant des Konzerthauses Dortmund, mahnte: "Wenn irgendetwas zu spät ist, wird es nicht wiederholt!"
Die Rede war da schon eine Weile von den "Chancen und Perspektiven eines Konzerthauses für Dresden" – so der Titel auf der Einladung des Forum Tiberius, der immerhin gut hundert interessierte Dresdner Folge geleistet hatten, unter ihnen René Pape, Dirk Hilbert, Ekkehard Klemm, Jan Nast, Stefan Gies, Wolfgang Hänsch und Michael Meurer. "Wie macht man eine Stadt zu einer Kulturstadt?", fragte Stampa, und erklärte das Konzept, mit dem er in Dortmund Erfolg hat: kompromisslos qualitätsorientiert müsse man handeln, und sein Publikum immer im Blick behalten. Matthias Naske, der Intendant der Philharmonie Luxembourg, eines 2005 im Herzen der Stadt eröffneten Konzerthauses und Residenzortes des ansässigen Orchesters, fügte an, Konzerthaus-Intendanten müssten über ein gewisses Maß von "Weltwahrnehmungskompetenz" verfügen, damit ihre Häuser "funktionierten", und lobte in diesem Zusammenhang auch die Weitsicht der ehemaligen Luxemburger Kultur- und Bautenministerin Erna Hennicot-Schoepges, die sein Haus federführend auf den Weg gebracht hat.
Im schnellen Passspiel mit den anderen beiden hochkarätigen Gästen – dem Intendanten des Wiener Musikvereins, Dr. Thomas Angyan, und Christoph Lieben-Seutter, dem Generalintendanten der Elbphilharmonie Hamburg – suchten Stampa und Naske dann wesentliche Aspekte herauszuarbeiten, die bei der Konzeption und Finanzierung eines städtischen Konzerthauses Berücksichtigung finden sollten.
Auch wenn die Frage "Konzertsaal oder Kulturpalastumbau" dabei eigentlich gar keine Rolle spielte: Wer den vieren aufmerksam zuhörte, musste nach und nach den Eindruck gewinnen, dass die Stadt Dresden bei der Planung für den neuen Konzertsaal im Kulturpalast so ziemlich alles falsch gemacht hat.
Nicht nur das unausgegorene Betreibermodell der bis zum Platzen der Finanzierungsblase vorangetriebenen Baupläne wäre da zu nennen. Auch bei der Weinberg-Architektur des geplanten neuen Saales meldeten die Intendanten sofort Bedenken an: "So baut man heute eigentlich nicht mehr" (Angyan), unter anderem weil ein Weinberg-Saal starr auf die Bespielung mit klassischer Musik zugeschnitten ist und für Veranstaltungen anderer Genres schlecht bis gar nicht taugt. Eben solche multimodalen Nutzungskonzepte seien es aber, mit denen ein Konzerthaus heute überhaupt noch wirtschaftlich betreibbar sei. Von Kinderkonzerten über Jazz, Pop und Weltmusik müsse der Horizont eines Konzerthauses sinnvollerweise reichen (Stampa: "Multifunktionalität ist wirklich das A und O"; Naske: "Klassische Musik macht bei uns allenfalls 35 Prozent aus."). Und (Lieben-Seutter): unbedingt denken müsse man beim Einbau an die mediale Zweitverwertung der Veranstaltungen, also: vorausschauende Planung von Kamerastandorten, Mikrofonierung, Regiekabine etc. sei vonnöten.
Unverzichtbar daneben (wiederum Angyan) ein guter Probensaal, damit die Hauptbühne für möglichst viele Veranstaltungen zur Verfügung stehe ("Heimische Orchester profitieren doch nur davon, wenn auch viele Gastorchester auftreten"), und überhaupt eine Vielzahl kleinerer Säle für Education-Programme, Kammermusikkonzerte, Vorträge, aber auch Empfänge für Mäzene und Sponsoren etc. (Lieben-Seutter: "Sorgen Sie unbedingt für ein behagliches Umfeld: der Kaffee muss schmecken, dann bringt man zum nächsten Konzert auch seine Freunde mit.") Das aller-, allerwichtigste jedoch, so Naske: "Das Bild eines neuen Konzerthauses muss eng mit den Menschen in der Stadt verknüpft werden!" Ein "Gespür für die Gesellschaft" brauche man dafür, so Lieben-Seutter, ein "hohes Maß an Diplomatie" werde von den Betreibern sowieso erwartet (Angyan).
Kleinlaut konnte bei alldem jeder Zuhörer im Kopf die Umbaupläne für den Kulturpalast gegenhalten: hier plant die Stadt Dresden (trotz wieder unklarer Finanzierung) immer noch einen einzelnen Saal mit Weinberg-Terrassen. Keinen Probensaal. Keine Kammermusiksäle. Kaum ausreichende Infrastruktur an sonstigen Räumen (etwa Garderoben für Gastorchester etc.). Und das "Gespür für die Gesellschaft"? Das lassen die Kulturpolitiker seit Jahren vermissen; offensichtlich wurde das spätestens an den Demonstrationen derjenigen, die "ihren Kulti" erhalten wollen und den Umbau für eine von oben oktroyierte Farce halten, weil damit nicht zuletzt ein funktionierender Mehrzwecksaal zerstört werde. Die "Weltwahrnehmungskompetenz" der Dresdner Kulturpolitiker – sie scheint bei null angekommen. Da nahm es eigentlich kaum noch Wunder, dass der Kulturbürgermeister und der Intendant der Dresdner Philharmonie zu dieser Veranstaltung schlicht fehlten.
Bevor das Forum Tiberius sich nun aber zum Weltretter generiert und vielleicht – das schwebte als Möglichkeit im Raum – mit René Pape als Gallionsfigur eines neuen "Rufes aus Dresden" das angeschlagene Image der Kunst- und Kulturstadt aufpoliert, sollte es seine Mitglieder und Gäste besser über die bisherige Geschichte und den Status quo informieren. Peinlich etwa der Moment, als Moderator Peter Gartiser Benedikt Stampa fragte, ob ein Zusammenschluss berühmter Dirigenten dem Konzerthausbau in Dresden nicht weiterhelfen könne. Was beide nicht zu wissen schienen: den gibt es bereits seit 2009. Was zuletzt das "hohe Maß an Diplomatie" angeht: das müsste zuvörderst einmal bestehen zwischen der Staatskapelle (die an diesem Vormittag mehr als einmal als "Dresdens Weltklasse-Orchester", "Platzhirsch" etc. bezeichnet wurde) und der Dresdner Philharmonie. Dass der Ausfall der erhofften EU-Fördermittel, die, wie Finanzbürgermeister Hartmut Vorjohann belämmert eingestehen musste, offenbar nie offiziell beantragten worden waren, muss das städtische Orchester fürchterlich enttäuscht haben; noch immer aber orientiert es sich auf den Kulturpalastumbau; es kann und darf sich nach wie vor nicht zum Bau eines Konzerthauses bekennen.
"Was kann die Kultur für die Wirtschaft leisten?" – das Motto des Forums zitierte Tiberius-Vorstandssprecher Dr. Jürgen B. Mülder zu Beginn der Veranstaltung. Mit John F. Kennedy wäre die Frage viel deutlicher auch in Gegenrichtung zu stellen. Was die lokale Wirtschaft für die Kultur in Dresden tun kann, müssen die nächsten Monate zeigen; allein kann und will die Stadt neben anderen Projekten wie dem Umzug der Staatsoperette in die Innenstadt das Konzerthaus-Projekt nicht schultern. Das Forum ist angesprochen hier mitzutun – etwa in der Überzeugung finanzstarker Sponsoren – aber eben auch die Bürger der Stadt zu begeistern und gemeinsam mit vorhandenen Initiativen möglichst rasch einen größeren Sympathisantenkreis für die Konzerthaus-Idee zu gewinnen. Geehrte Herren Bürgermeister, lieber Stadtrat: Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.