Deutschland lag in Schutt und Asche. Doch schon im April 1947 kam in München eine regelgerecht große Opernproduktion, Richard Wagners »Walküre«, auf die Bühne. Das wiederhergestellte Prinzregententheater, ein am Wagner-Festspielhaus Bayreuth orientierter Bau, hatte nur geringe Kriegsschäden abbekommen. Berührungsängste gegenüber dem von der Nazi-Ideologie vereinnahmten Wagner gab es seitens der Besatzungsmacht nicht; wenn nur die Hauptprotagonisten der Aufführungen „unbelastete“ waren! Das galt für den ausgesprochenen Nazi-Gegner Hans Hotter in seiner Paraderolle des Wotan und Marianne Schech als Sieglinde, die als Gast aus Dresden anreiste. Der stabführende Georg Solti aus der neutralen Schweiz kommend, war 1946 von der amerikanischen Militärregierung als GMD der Bayrischen Staatsoper eingesetzt worden.
Anders in Dresden, das länger unter Wagner-Entzug darben musste. Die sowjetische Militäradministration verbot Wagner-Aufführungen nach Kriegsende über vier für Wagnerianer lange Jahre. Erst am 24. April 1949 durfte sich der Vorhang erstmals wieder für eine Wagner-Oper heben. Auf die Bühne des wiederaufgebauten Großen Hauses kam »Tannhäuser«. Bernd Aldenhoff (Tannhäuser), Christel Goltz (Elisabeth), Arno Schellenberg (Wolfram), Inge Karén (Venus) und Kurt Böhme sangen, um einige der Hauptrollen zu nennen, im Bühnenbild von Karl von Appen. Die neunte Inszenierung der in Dresden mit 14 Produktionen meistinszenierten Oper.
Doch zuvor schon hatte der erste Generalmusikdirektor nach dem Krieg, Joseph Keilberth, mit List und Hartnäckigkeit durchsetzen können, dass Wagner-Noten aufs Pult kamen. Das Gedächtniskonzert zum 100. Geburtstag von Ernst von Schuch am 24. November 1946 hatte zum Auftakt das Vorspiel des »Parsifal«. Keilberths Tagebuch verzeichnet zu den ersten Wagner-Klängen nach dem Krieg in Dresden „Seit langer Zeit wieder Wagner! Beglückend! Kapelle musiziert prachtvoll.“ Ein Mitschnitt davon ist nicht gefunden; die Zusammenstellung enthält keinen.
Und noch einmal wagt es Keilberth, Wagner ins Programm zu nehmen. In der doppelten Festveranstaltung zur »Eröffnung des wiederaufgebauten Großen Hauses« und der 400-Jahrfeier der Kapelle am 24. September 1948 – war doch Richard Wagner selbst Kapellmeister des Orchesters gewesen! Keilberth dirigierte das Vorspiel zu den »Meistersingern«. Sein Sohn berichtet später: „Wegen frenetischen Jubels musste das Vorspiel wiederholt werden“. Der Life-Mitschnitt ist als erste Aufnahme der Box zu hören. Feierlich, fast getragen führt Keilberth die Staatskapelle in den Auftakten, bis sich der Klang ins Jubeln der Sängerversammlung steigert und festlich ausklingt. Die technischen Möglichkeiten der am 7. Dezember 1945 in Dresden gegründeten Mitteldeutschen Rundfunk-Gesellschaft waren unvorstellbar bescheiden, ebenso die räumlichen; so schildert es der Herausgeber der Edition, Steffen Lieberwirth. Erstaunlich ist die Hörqualität der historischen Aufnahmen auf den CDs der Edition. Dazu wurde das alte Bandmaterial einer behutsamen und sensibel auf jeden Mitschnitt einzeln abgestimmten Renovierung unterworfen; das Rauschen unterdrückt, vor allem die extrem übersteuerten Höhen früherer Magnetbandaufzeichnungen auf einen vertretbaren Klirrfaktor gemindert. Gerhardt Steinke beschreibt im Booklet die Improvisationen des Rundfunks der ersten Nachkriegsjahre in Erinnerungen an seinen Berufsanfang als Tontechniker beim MDR.
Die ersten Wagner-Aufnahmen des MDR-Senders am 22. Dezember 1949 im Steinsaal des Deutschen Hygienemuseums Dresden mussten mit dem Staatlichen Rundfunkkomitee der DDR in Berlin abgestimmt werden. Auf den CDs kommen der »Tannhäuser« mit der Staatskapelle unter Rudolf Kempe und Karl Paul als Wolfram und das Vorspiel des »Lohengrin« und Bernd Aldenhoff in der Rolle des Lohengrin zu Gehör. Einen frühesten »Tannhäuser« Mitschnitt von März 1947 und die erste Tannhäuser-Gesamt-Produktion des Rundfunks der DDR von 1953 aus dem Sendesaal des Leipziger Funkhauses enthält die CD 1.
Mehrmals auf den CDs Bernd Aldenhoff; mit gewaltiger Stimmkraft in der Rom-Erzählung eines Livemitschnitts von 1950 aus dem Dresdner Steinsaal (CD 3). Nach zu hören mit ihm im Duett Elisabeth–Tannhäuser ist Christel Goltz’s volle Klangschönheit in einer Probeaufnahme aus Leipzig oder Dresden(?) vom 22. November 1947. Das Band dieses Mitschnitts wurde im Rundfunkarchiv originalversiegelt aufgefunden (CD 3).
Das erwachende Leipziger Musikleben unterlag keiner Beschränkung oder gar einem Verbot, dank der Besetzung 1945 der Stadt durch amerikanische Truppen. Die nachrückenden Russen ließen den Leipzigern diese Freiheit, wohingegen die Dresdner Verantwortlichen das Wagner-Verbot der Militäradministration streng durchsetzten. Im Neujahrskonzert 1948 des MDR, ausgestrahlt von Leipzig, waren denn auch vier Auszüge aus »Siegfried« und »Die Meistersinger von Nürnberg« zu hören (CD 2, Track 7-10).
Orchester und Restensemble der Staatsoper waren evakuiert worden nach Bad Elster. Von Konzerten dort oder in Brambach zwischen April und Juni 1945 für Soldaten der US-Army sind fragmentarische Aufzeichnungen aus »Lohengrin« mit dem Tenor Hans Hopf und Dirigent Kurt Striegler erhalten (CD 2). Aufgezeichnet wahrscheinlich mit einem „organisierten“ Tonbandgerät der Wehrmacht durch Erich Muschinsky, der später als genialer Techniktüftler dem MDR diente.
27 Aufzeichnungen enthalten die drei CD’s der Kassette dazu ein fast neunzigseitiges Booklet, reich bebildert mit einmaligen historischen Aufnahmen, Geschichten und Dirigenten- wie Sängerbiografien. Eine wahre Fundgrube von Dokumenten zur Geschichte des Beginns der Wagner-Rezeption und der Rundfunkproduktion nach 1945. Zum Schmunzeln: schon damals gab es Berührungsängste zwischen den beiden Dresdner Klangkörpern; auf Bitten der Dresdner Philharmonie um Noten ist die Anmerkung der Staatskapelle zu finden: „… ist es ratsam, dieses Material zu verleihen?“
„Wagner again?“ Die ersten Dresdner Nachkriegsaufnahmen
Semperoper Edition Vol. 3, Label Profil Medien Edition Günter Hänssler 2013, Kassette mit 3 CD, Booklet 89 Seiten deutsch/englisch, vielzählige Abbildungen, Dokumente, Faksimile, Produktion und Herausgeber Dr. Steffen Lieberwirth