Mit der Uraufführung der 11. Sinfonie, deren Programm auf die Russische Revolution 1905 abhob, war Dmitri Schostakowitsch als Komponist endgültig rehabilitiert. Das Werk wurde öffentlich gefeiert, dem Komponist 1958 der Leninpreis verliehen. Bis heute bleibt indes unklar, inwieweit Werkaussagen zwischen den Zeilen zu lesen sind; ob es sich hier um eine Schilderung der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes handelt oder das Werk als abstrakte Anklage, gar als Requiem zu verstehen ist. Martin Morgenstern hat darüber mit dem Dirigenten Michael Sanderling gesprochen.
Michael Sanderling, da ist diese Filmaufnahme von Dmitri Schostakowitsch. In einem Gespräch mit seinem Sohn Maxim über die 11. Sinfonie sagt er mit leiser Stimme: „Mein Ziel war es, ist es und wird immer sein, patriotische Musik zu schreiben – kein musikalisches Werk kann ohne Patriotismus auskommen.“ Wie müssen wir solche „öffentlichen“ Aussagen des Komponisten verstehen?
Wenn Schostakowitsch über Humanität spricht, ist das die Humanität jedes einzelnen, nicht die Humanität eines gesamten Volkes. Und: alle seine Werke tragen autobiografische Züge. In Bezug auf die 11. Sinfonie ist das mit dem Patriotismus also sehr einfach zu beantworten: der Komponist fragt: „Seid ihr denn des Wahnsinns, auf euer eigenes Blut zu schießen?“ Eindrücklicher als mit dieser Musik ist das nicht zu erzählen. Schostakowitsch hatte diese Art und Weise des Chiffrierens seiner Botschaft: all das konnte er sagen, ohne dass ein „Offizieller“, ein Kulturpolitiker verstanden hat, worum es überhaupt geht, und das zieht sich fast durch sein gesamtes Schaffen. Zitate von Volksliedern, auch Zitate seiner eigenen Musik, nutzte er, um zu verklausulieren, was ist und worum es ihm eigentlich geht.
Es ist irgendwie bedrückend, diese doppelbödige Interviewszene anzusehen. Über Maxims Rolle bin ich mir zum Beispiel nicht im Klaren.
Schostakowitsch hat sich in der Öffentlichkeit mit größtmöglicher Vorsicht verhalten. Er war, soweit ich das überliefert bekommen habe, das, was man einen sehr ängstlichen Menschen nennt. Manche nennen ihn gar feige; das würde ich mir nie erlauben, als jemand, der nicht im entferntesten erahnen kann, was Schostakowitsch erleben und erdulden musste. An einem Punkt wird für mich tatsächlich die ganze Tragödie um die Rezeption seiner Werke deutlich sichtbar: am Umgang mit seinem Sohn! Der bis heute nicht begreifen kann, was eigentlich hinter der Musik steht. Warum? Weil der Vater dem Sohn bewusst nicht die Wahrheit erzählt hat, um ihn zu schützen. Mir läuft es jedesmal kalt den Rücken herunter: lügen zu müssen aus Liebe und aus Schutz? Als Vater von zwei Söhnen möchte ich so etwas nie erleben müssen.
Bis heute ist sich die „westliche“ und die „östliche“ Schostakowitsch-Forschung uneins über die Bewertung dieser Werkaussagen zwischen den Zeilen, dieser „Geheimsprache“, wie Sie auf der Webseite der Philharmonie zitiert werden.
Dazu kann ich vielleicht einen interessanten Aspekt beitragen: nach wie vor umstritten sind ja die so genannten „Memoiren“ von Schostakowitsch, die Solomon Wolkow niedergeschrieben hat…
…und die bis heute nicht in russischer Sprache verlegt wurden…
Mein Vater sagte mir: wie Wolkow die Dinge formuliert hat, so hat mein Vater sie – teilweise Wort für Wort – von Schostakowitsch selbst gehört.
Sie kombinieren die 11. Sinfonie im Konzert mit einer Reger-Bearbeitung des Bach-Werkes „O Mensch, bewein dein Sünde groß“. Im Kontext der Dresdner Gedenkkonzerte wird das hoffentlich nicht zu eindimensional verstanden? Bei manchen Dresdnern reicht die Erinnerung exakt bis zur Zerstörung der Stadt am 13. Februar 1945, keinen Tag weiter zurück.
Ich habe bewusst die 11. Sinfonie gewählt, weil dort sozusagen aus den eigenen Reihen gesagt wird: „Was macht ihr da?“ Deswegen auch spielen wir den Reger davor. Ich finde das Erinnern sehr wichtig. Je weiter weg wir von dem Vorgang selbst sind, umso wichtiger wird die Erinnerung, die Mahnung, das Positionieren.
Dresdner Philharmonie – Konzert zum Dresdner Gedenktag
13. Februar 2015, 19.30 Uhr, Albertinum
Max Reger (1873 – 1916): Aria »O Mensch, bewein Dein‘ Sünde groß« nach Bachs Choralvorspiel BWV 622
Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975) : Sinfonie Nr. 11 g-Moll op. 103 – »Das Jahr 1905«
Karten bestellen