In ihrem sechsten Jahrgang sind die Internationalen Schostakowitsch-Tage Gohrisch einen Schritt nach vorn gegangen und an den Ort ihres Ursprungs zurückgekehrt. Der Schritt nach vorn ist die Vorverlegung vom Herbst in den Sommer (davon hat man dieses Jahr temperaturmäßig leider nur wenig gespürt), der Ort ihres Ursprungs ist die Konzertscheune, die künftig in Schostakowitsch-Scheune umbenannt werden sollte. Ihre Akustik ist gut bis phänomenal (man hört allerdings auch jedes Telefonklingeln).
Drei Säulen trugen diesmal das Ausnahme-Festival, das an nur zweieinhalb Tagen insgesamt sieben Programmpunkte bot: Dmitri Schostakowitsch, natürlich, ohne den geht es hier nicht; Arvo Pärt, der wird dieses Jahr 80 und wollte eigentlich persönlich mit dabei sein, musste sich dann aber doch schonen und auf den Ausflug nach Gohrisch verzichten; Vsevolod Zaderatsky, den bislang kaum jemand kannte, dessen Werk eine posthume Wertschätzung aber unbedingt verdient hat.
Daneben gab es erneut eine szenische Produktion von und mit Isabel Karajan, die ebenfalls eine fast unbekannte Künstlerpersönlichkeit vorgestellt hat. Voriges Jahr debütierte sie hier mit „Fräulein Tod trifft Herrn Schostakowitsch“, einem Projekt, das sie wenig später erfolgreich zu den Osterfestspielen Salzburg transferierte. Diesmal machte sie unter der Überschrift „Vergiss dein Pfuschwerk, Schöpfer“ und in der Regie von Julian Pölsler mit der vor 100 Jahren geborenen Dichterin Christine Lavant bekannt, die sich ihr Lebensleid in wutvoll ergreifender Lyrik von der Seele schrieb. Dazu erklang Schostakowitschs Cellosonate op. 40, für die Isang Enders nach Gohrisch zurückgekehrt und sehr zu Recht stark gefeiert worden ist. Am Klavier begleitete Andreas Hering, von dem man sich manchmal noch etwas mehr Schärfe gewünscht hätte.
Umgesetzt wurden die drei kompositorischen Säulen von Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle, ohne die Gohrisch nicht denkbar wäre, sowie vom fulminanten Pianisten Jascha Nemtsov und vom legendären Borodin-Quartett. Das kann dieses Jahr auf sieben Jahrzehnte seines Bestehens (in wechselnden Besetzungen) zurückblicken und gilt – neben dem Beethoven-Quartett – als bestes Kammerensemble für den Klangkosmos von Schostakowitsch. Im Rahmen seiner Welttournee zum Jubiläum spielten die 1945 von Rudolf Barschai mitgegründeten Borodins die Streichquartette Nr. 3, Nr. 6 und Nr. 8 in Gohrisch. In logischer Konsequenz erhielt dieses Ensemble den diesjährigen Schostakowitsch-Preis Gohrisch – der erste ging 2010 posthum an Barschai. Das Publikum in der Scheune war schier aus dem Häuschen.
Begeistert zeigten sich die kundigen Gäste auch von der zweiteiligen Uraufführung der 24 Präludien und Fugen von Vsevolod Zaderatsky, die der Pianist und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov mit großartiger Fingerfertigkeit aus den Tasten zauberte. Mehr als zweieinhalb Jahre hat der Künstler in dieses einzigartige Projekt gesteckt, schon bald nach der Gohrischer Entdeckung soll der Zyklus auch auf CD eingespielt werden.
Zaderatskys Idylle „Der Nachtigall Garten“ sowie eine Liedfolge wirkten wie aus anderer Hand, angesichts der sehr bewegten Lebensumstände dieses in der Sowjetunion mehrfach inhaftierten Komponisten ziemlich verständlich. Jascha Nemtsov erwies sich auch darin als kenntnisreicher Sachwalter und führte mit Rozália Szabó, der Soloflötistin der Sächsischen Staatskapelle, die illustrativ klingende „Nachtigall“ auf, begleitete bei den vier Liedern die mit immensem Stimmvolumen brillierende Mezzosopranistin Maria Gortsevskaja in virtuoser Deutbarkeit.
Musik von Arvo Pärt zog sich ebenfalls durch die sieben Konzerte, angefangen mit dem Countertenor Andreas Scholl, der ein geradezu propagandistisch wirkendes „Vater unser“ sowie das zur sächsischen Berglandschaft bestens passende „My Heart’s in the Highlands“ als Deutsche Erstaufführungen gestaltete. Nach Pärts Hingabe verlangendem „Arbos“ für Blechbläser und Schlagzeug sowie der Komposition „These Words …“ für Streichorchester und Schlagzeug erklangen sein originelles „Quintettino“ sowie die allseits bekannten „Fratres“, hier allerdings in der hellhörig machenden Fassung für Kammerensemble.
In solchen Momenten ist wieder sehr deutlich geworden, ohne die Mitwirkung der Staatskapelle wären die Schostakowitsch-Tage kaum denkbar. Sie tragen dieses Musikfest, das ihr Konzertdramaturg Tobias Niederschlag ins Leben rief und Jahr für Jahr künstlerisch unterfüttert. Ob Konzertmeister Matthias Wollong, der in Schostakowitschs Violinsonate G-Dur op. 134 sowie in einer unvollendet gebliebenen Sonate von 1945 Virtuosität und Inhaltsbewusstsein ausstellte, ob die Orchestermatinee unter Vladimir Jurowski mit spektakulären Ausschnitten aus Schostakowitschs Filmmusik „Das neue Babylon“ sowie seinen Gedichtvertonungen nach Marina Zwetajewa – da ist stets künstlerischer Wille in Verbindung mit höchster Qualität gepaart.
Die Macher der Schostakowitsch-Tage dürfen sich auch in diesem Jahr wieder glücklich schätzen. Mit hoher Professionalität und großer Liebe zur Sache haben sie ihr charmantes Festival auf eine neue Stufe gehoben. Die mondäne Künstlerschaft macht da offensichtlich ebensogerne mit wie das kaum weniger internationale Publikum. Fehlen nur noch ein paar potente Sponsoren, um die Internationalen Schostakowitsch-Tage Gohrisch auch materiell langfristig auf eine gute Basis zu stellen.
Die Schostakowitsch-Scheune ist als Konzertsaal vorerst für fünf Jahre gesichert, die nächsten Schostakowitsch-Tage gibt es vom 24. bis zum 26. Juni 2016.
MDR Figaro sendet am 3. Juli 2015 ab 20.05 Uhr einen etwa zweieinhalbstündigen Querschnitt aus dem Programm der diesjährigen Schostakowitsch-Tage.