Ein Dresdner in Riga: Für »Musik in Dresden« berichtet Boris Michael Gruhl vom 11. Rigaer Opernfestival.
Johnny van Hal – Siegfried, Mime – Bengt-Ola Morgny (Fotos: Gints Malderis)
Als Festivalpremiere in diesem Jahr
„Siegfried“, der zweite Tag von Wagners Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“, das, wenn es komplett sein wird, auch überhaupt zum ersten Mal in Riga aufgeführt wird. Bisher waren nur Teile des Ringes in dieser Stadt mit Wagnertraditionen, wo der Meister selbst als Kapellmeister wirkte, zu sehen.
Also „Siegfried“ in Riga. Gut fünf Stunden Oper. Die Zeit vergeht wie im Fluge und selten wurde wohl in einer Wagneroper so viel gelacht und geschmunzelt wie an diesem, mit stürmischen Ovationen gefeierten Premierenabend. Dabei nimmt der Rigaer Regisseur Viesturs Kairiss das Musiktheater sehr ernst und vor allem genau, leugnet in keinem Moment die Tragik dieses Erschöpfungstheaters, das er aber so geschickt wie gekonnt als göttliche und menschliche Komödie vom großen Scheitern präsentiert. Hier wird gespielt und nicht gestanden. Dass dabei gesungen wird, dass dies nicht immer gut und edel klingt, dass Töne errungen, erpresst und erkämpft sein wollen, fügt sich als geradezu natürliche Form eines Theaters zum Ganzen, in dem ob der Ungeheuerlichkeit dessen, was verhandelt wird, auch die Formen des Ausdrucks zuweilen ungewöhnlicher Mittel bedürfen.
Auch szenisch führt uns der Regisseur mit seinen Erfahrungen in unterschiedlichen Formen des Theaters und des Films zuweilen in die Bereiche des Absurden, des Gruselcomics und erreicht sogar den Charme des Boulevards. Die Orte des Spiels von Ivea Jurjane, im Licht von Linus Fellbom, zitieren aktuelle, weltweite Wirklichkeit, wie man sie in auch Riga sehen kann, wenn man will und bereit ist, das Zentrum der wahrhaft schönen Stadt zu verlassen. Hier wie überall, wo die Götter gehaust und Verträge gebrochen haben, als Okkupanten oder als Befreier, als Heilsbringer oder Händler, Bekehrer oder Auskehrer, als Führer und Verführer, finden sich deren Hinterlassenschaften. Brachen der modernden Industrie, verfallende Burgen aus allen Zeiten, modernde Landschaften. An solchen Orten spielt der Rigaer „Siegfried“.
Mime der Zwerg (Bengt-Ola Morgny) zieht den tapsigen Kindbengel (Johnny van Hal) in seiner Wohnschmiede auf, wohin sich der hinterlistige, intellektuelle Kleinbürger mit alten Büchern und Schallplatten zurückgezogen hat. Fafner (Krisjanis Norvelis) bewacht den geraubten Hort, das Raubgut der Nibelungen, im Keller eines solchen Unortes. Alberich (Marcus Jupither) wartet auf seine Chance, den einst geraubten Schatz zurück zu rauben zwischen Bergen von Leichen und Unmengen tickender Bomben. Für einen Regisseur, der zu spielen versteht, müssen sich diese Toten nur bewegen und schon ist ein vielköpfiges Ungeheuer auf der Bühne, gänzlich ohne Kulissenzauber und Theatertrick, und solchen Wurm zu töten ist ein Mord, ein vielfacher zudem. Der das tut, unser Zögling, dem nicht nur der knappe Anzug ständig zu eng wird, die eigene Haut ja auch, hat das Schmieden von Waffen schon bestens erlernt, mit ihnen umzugehen noch besser, und Furcht? Was ist das?
Auch Mime, dessen mörderischer Plan, sich seinen Teil vom Gold mit Siegfrieds Hilfe zu holen, wird zu den Kellerleichen gelegt. Alberich macht sich davon, er flieht schon in die „Götterdämmerung“ und hofft auf neue Chancen mit Hagen. Unser Held indessen, mit Kinderblick und Bärenkräften, packt die Tarnkappe aus dem Schatz in den Rucksack zum Reisekinderkopfkissen und steckt sich den Ring, protzig wie einer vom Rummelplatz, an den Finger. Was ihm der liebliche Waldvogel (Kristine Gailite) singt, versteht er, seit Blut an seinen Fingern und Lippen klebt.
Zu neuen Taten! Zuvor aber, jetzt im dritten Teil, in einer Zwischenwelt, nicht unter der Erde, aber auch nicht darauf, zwischen moderndem Laub und Sperrmüll in den Resten eines industriellen Schwimmbeckens, will Wotan selbst (Egils Silins), der glücklose Wanderer, bei Erda (Liubov Sokolova) wissen, wie es weitergehen könnte. Die geht lieber, ganz in die kontaminierte Erde, durch eine Lücke im Mauerwerk. Wotan hingegen, hier so ein entwurzelter Söldner, überall zu Hause und nirgends daheim, melancholischer Filmheld, auf einem Auge blind aber ansonsten die Potenz auf Beinen, hat wieder einen Plan, der wird auch schief gehen. Und schon kippt Siggi den Opa vom Sessel, zerdrischt ihm den Speer und findet unterm Laub versteckt die schlafende Brünnhilde (Irene Theorin). Die ist, das sieht er, kein Mann, ihm wird komisch er bekommt endlich Furcht und ruft nach der Mama. Es ist eine sehr komische Szene, wenn der Riesenbengel so gern wie ungeschickt begrapschen möchte, was er nicht hat, die Göttertochter aber erst mal Ordnung macht. Ja und dann, völlig klar, völlig vergeblich, aber jetzt muss es sein, hastig, am Boden und in einzig möglicher Stellung, der Akt, über dem sich gnädig der Vorhang schließt. „Lachender Tod“, selten war eine Tragödie so zum Heulen komisch.
…und Brünnhilde (Irene Theorin)
Das großartige Ensemble vertraut sich ganz den Musiktheaterideen dieser Produktion an, denn der Regisseur hat es verstanden, seine Bilder und Vorgänge für die Charakterisierung und Führung der Personen von ihren Persönlichkeiten her zu entwickeln. So erreicht er die Authentizität der Darstellung und vor allem die doppelbödige Leichtigkeit im Umgang mit Dingen, die alles andere als leicht sind.
Auch musikalisch wird der große Mut so staubfreier Interpretation belohnt. So siegt die aktive und spannungsgeladene Auseinandersetzung mit einem Werk durch ein Ensemble, das es sich gemeinsam erobert. Das Erlebnis dieses Prozesses ist das Besondere solchen Musiktheaters. Die Betonung liegt, was die Leistungen der Sängerinnen und Sänger sowie der Mitglieder des Orchesters angeht, auf beiden Begriffen, Theater und Ensemble. Das gibt es hier. Ein Kollege fängt den anderen auf, hier singt man sich Mut zu, spielt sich gegenseitig auf. Ein ursprüngliches musikalisches Ereignis aus Tönen der Wahrheit.
Bei dem jungen Dirigenten Cornelius Meister, Generalmusikdirektor in Heidelberg und in der kommenden Saison Gast am Pult der Philharmonie in Dresden, laufen die Fäden zusammen, um mit neuen Energien aufgeladen zurück in die Szene zu blitzen. Die szenische Arbeit muss in produktivem und vor allem kreativem und lustvollem Dialog zwischen ihm und dem Regisseur verlaufen sein. Jetzt gibt er sicher den Takt und das Tempo, er führt, er fängt ein und vor allem immer wieder auf. Ein guter Hirte. Ein Künstler dazu. Er spielt mit. Und im melodischerem, leuchtendem dritten Aufzug kann er schon mal anklingen lassen, wo er wahrscheinlich mit diesem Orchester noch gut hingelangen kann.