Charles Lloyd hebt mit Bedacht Bein um Bein, wenn er läuft. Ähnlich marionettenhaft zieht er auch seine Hose nach oben, wenn er sich an das Klavier setzt, Saxophon oder Querflöte greift. Doch berühren seine Hände einmal das Instrument, fließen geschmeidige, warme
Töne in jeden Winkel des ehrwürdigen Saales. Unterstützt von zwei Perkussionisten – Eric Harland und dem indischen Tablaspieler Zakir Hussein – versetzte Lloyd vergangenen Mittwoch Abend zur Eröffnung der neuen Spielzeit die Semperoper in einen fernöstlichen Badetempel: Denn Husseins Tablaspiel erinnert an warme, wabernde Blubgeräusche; Lloyds Kompositionen bewegen sich zwischen Jazz und Meditationsmusik mit Elementen indischer Volksmusik.
Mit diesem entspannenden und dennoch vielschichtigen Klangerlebnis schuf Charles Lloyd einen Gegenpol zum ersten Teil des Konzertes. Diesen bestreiten stets junge Nachwuchsjazzer, die der MDR auswählt. Dieses Jahr hatte man sich für „Beat Freisens Spelunkenorchester“ entschieden. Die Musik – überwiegend komponiert von Schlagzeuger Freisen – war jedoch ein angestrengter und daher anstrengender Versuch, Neues zu kreieren: Piano, Bass, Schlagzeug kombiniert Freisen mit einem Streichquartett. Doch „Marsch“ oder „Tremble low“ entpuppten sich als überwiegend simple Viervierteltaktstücke voller überambitionierter Anspielungen auf klassische Melodien wie Stravinskys Zirkuspolka oder Ravels Bolero. Jazz mit Streichern ist immer ein bisschen wie Abba mit dem Schulorchester. Dass auch die Improvisationen der jungen, zweifellos exzellenten Musiker der Hochschule für Musik Leipzig einfach zu sehr einstudiert waren, zeigte ein seltener Zwischenfall: Cellistin Hui-Chun Lin riss die C-Saite just in dem Moment, in dem Bassist Daniel Werbach zum Solo einsetzen wollte. Während Lin von der Bühne eilte, wollte Werbach weiterspielen, jammen. Doch Freisens brach ab, wollte das Stück von neuem beginnen. Was folgte, war minutenlanges Schweigen auf der Bühne und unverhoffter Gedankenaustausch im Publikum – problematisch höchstens für die Radioübertragung des Spelunkenförderers MDR.
Mit fehlender Bühnenerfahrung hat Charles Lloyd gewiss nicht zu kämpfen: Im März wurde er 70 Jahre alt. Nichts wirkt durchprobt oder vorbestimmt, sondern tatsächlich wie eine meditative Reise, die die Zuschauer mitnahm – sodass manche die Augen schlossen, andere entspannt Beine und Bäuche von sich streckten. Doch in der Semperoper nimmt sich Lloyd, einer der berühmtesten lebenden Jazzmusiker, oft zurück, poliert seine Sonnenbrille, setzt sich mit verschränkten Armen auf seinen Klavierhocker und lauscht einfach. Lauscht, wie Hussein seinen Tablas teilweise einen echten Walking Bass entlockt oder wie er sich mit dem grandiosen Eric Harland in wahnwitzigen Rhythmusdialogen wie in Trance spielt. Dann erhebt sich Lloyd langsam, stakst kleinen Schrittes um den Flügel herum, greift sich eines der Blasinstrumente und verschwimmt trotz des Indisch-Meditativen mit der hohen Stimme Husseins und dem Kontra-h Harlands zu einem fast sakralen Orgelklang.
Louisa Reichstetter (Foto: Charles Lloyd PR)