Raphaël Coumes-Marquet (Foto: Costin Radu)
Schon nach dem ersten Teil donnernder Applaus. Der Jubel kommt dazu, nach jedem der vier Choreografien mehr. Begeisterung zum Finale, wenn alle Tänzer des Ballettabends „Dreamlands“, etliche schon in Alltagskleidung, wieder auf
die Bühne kommen. Im Haus der Berliner Festspiele wackeln die Wände. Auf der Bühne das Dresden SemperOper Ballett, im Saal Berliner Tanzfans, die Stars des Staatsballett Berlin, Festivalstimmung.
Berliner Tanzglück im August. Das Gastspiel als Geburtstagsgeschenk, ermöglicht durch die Stiftung der Deutschen Klassenlotterie Berlin, in der an Höhepunkten und Überraschungen nicht gerade armen 20. Ausgabe des größten deutschen Tanzfestivals, das sich weltweit aktuellen Strömungen widmet. Umso überraschender, dass gerade die Dresdner Tänzerinnen und Tänzer mit ihrer klassischen Grundausrichtung dermaßen abräumen, dass dieselben jungen Tanzfans die an den Tagen zuvor auch performative Beliebigkeiten willig bestaunten, hier gebannt sind vom Tanz auf der Spitze, Sprüngen, Hebungen und Drehungen. Es liegt daran, dass William Forsythes „The Second Detail“, „The Gray Area“ von David Dowson, „No Thumb“ von Pascal Touzeau und „Empty House“ von Johan Inger in der mitreißenden Darbietung es an emotionaler Gegenwärtigkeit durchaus aufnehmen können mit Gastspielproduktionen, die nicht älter als ein Jahr sind.
Jón Vallejo (Foto: Costin Radu)
Der Erfolg ist begründet, weil Aaron S. Watkin mit der Company in kurzer Zeit einen klassisch-modernen Stil entwickelte, in dem zeitgemäße und authentische Ausstrahlung der Tänzer ganz und gar nicht im Widerspruch zu absoluter Exaktheit stehen. Auch deshalb ein entscheidender Festivalbeitrag, weil er die Diskussion um die Fragen nach der Freiheit und den Regeln in der der Kunst belebt. Bettina Masuch, eine der fünf Kuratorinnen, bestätigt im Gespräch, dass es langsam gelinge, Berührungsängste und Abgrenzungen auf Seiten der Künstler und des Publikums abzubauen. Vor fünf Jahren war ein solches Gastspiel nicht denkbar. Im letzten Jahr aber, als die Solisten vom Berliner Staatsballet mit den Dresdner Kollegen die Kunst des klassischen Pas de deux einem zunächst überraschten und verwirrten, am Ende überwältigten Publikum präsentierten, begann dieser Weg der Annäherung auf beiden Seiten. Die Kuratorin zieht positive Bilanz. Die Publikumsauslastung beträgt 97 %, das sind bei 120 Veranstaltungen an 17 Tagen auf zehn Berliner Bühnen 22.000 Besucher. Der Etat beträgt eine Million Euro, zwei Drittel kommen vom Hauptstadtkulturfonds, den Rest erwirtschaften die Veranstalter, Kulturprojekte Berlin GmbH mit den Partnern TanzWerkstatt Berlin und Hebbel am Ufer. Schlecht behandelt fühlt man sich da nicht, problematisch ist nur die Planung, wegen der jährlich neuen Beantragung und Bewilligung. Für Bettina Masuch, deren Berliner Zeit nach fünf Jahren zu Ende geht, zählt vor allem, dass es dem Team gelungen ist, ein junges Publikumsfestival zu begründen, das jährlich in Berlin die internationale Tanzszene präsentiert, jetzt sogar mit Beiträgen, die die Barrieren der Genregrenzen hinter sich lassen. Qualität statt Ideologie.
Da passt es gut ins Konzept, wenn zum Finale im Hebbeltheater, wo die Nele Hertling 1988 das Festival begründete, die amerikanische Choreografin Trisha Brown mit ihrer Company auftritt und vier Stücke aus 30 Jahren präsentiert. Browns Einfluss auf den neuen Tanz ist noch immer von Bedeutung, richtungweisend nicht mehr. Mit ihrer Methode der Reduktion nach den Zeiten moderner Opulenz, dabei der Leichtigkeit und dem Heiteren nahe, lenkte sie den Blick auf das Wesentliche des bewegten Körpers. Die Klassiker ihrer Programmatik, das Solo „Accumulation“ von 1971, für die beiden Daumen einer Tänzerin oder „Spanish Dance“ von 1973, für fünf Anti-Flamenco-Tänzerinnen, erheitern trotz leichter Staubschicht. Ihre Idee vom Tanz ohne Vorherrschaft der Muskelkräfte vermittelt sich am besten im Solo „If you couldn´t see mee“ von 1994, das die heute 71jährige Trisha Brown vor einigen Jahren hier selbst mit konsequenter Blickrichtung zur Dunkelheit der Bühnentiefe getanzt hat. Ihre jüngste Arbeit im Programm, „Present Tense“, von 2003, besticht durch leichten Tanz der sechs Solisten, bewegt von den Strömen des Atems.
“Un peu de tendresse bordel de merde” (Foto: PR)
In krassem Gegensatz Dave St-Pierre aus Montreal mit seinem wortreichen und tanzarmen Stück „Un peu de tendresse bordel de merde“ (Ein bisschen Zärtlichkeit, verdammt noch mal!) in der Berliner Volksbühne am Luxemburgplatz. Hier darf man alles, Provokationen funktionieren hier schon lange nicht mehr. Diese Bühne ist durchtränkt von allen menschlichen Flüssigkeiten und Absonderungen. In verständlicher Angst vor Einsamkeit, Zärtlichkeitsverlust und Beziehungsunfähigkeit verwechselt der 31jährige Künstler Selbstbezogenheit mit Selbstbefriedigung nackter, kreischender Männer. Eine Frau treibt es gänzlich gleichberechtigt in der Sahnetorte. Schoko für hinten, Sahne für vorn. Kunst kennt keine Schamgrenzen. St-Pierres Produktion wird als biografisches Tanztheaterstück bezeichnet, angesiedelt an der Schnittstelle von Tanz, Theater und Performance. Zu sehen sind mitunter Etüden, workshopartige Raumerkundungen oder immer wieder nackte Szenen, in denen die Protagonisten eher bloß gestellt werden, als dass so etwas wie Zustände seelischer Nacktheit assoziiert werden könnte, was ja, wie man weiß auch völlig bekleidet funktionieren kann. Im Tanz schont sich die Company nicht und schafft in Passagen ungeschützter Körperarbeit Momente starker Berührung. Am Ende alle nackt und nass, glitschen sie über die klitschnasse Bühne, verenden wie zappelnde Fische auf dem Land. Letzte Umklammerung. Kein Widerstand. Liebestod. Momente solcher Dichte sind selten in dieser streitbaren Arbeit, die genau deshalb in das Programm dieses Festivals gehört.
Ganz im Sinne einer Einschätzung des Festivals durch den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, der betont: „Unterschiedlichkeit ist keine Bedrohung, sondern eine absolute Güte.“ Berlin lebe von der Vielfalt, und „Tanz im August“ sei dafür ein „wunderbares Beispiel“. Damit nicht genug. Bernd Wilms vom Hauptstadtkulturfonds blickt in die Zukunft und sieht erfreuliche, für 2009 finanzierte, Perspektiven. „Tanz in August“, so Wilms, muss ein Stück Berliner Zukunft sein.
Boris Michael Gruhl
Eine Textfassung des Artikels ist am 2. September in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abzudrucken.
Weitere Aufführungen von ”Dreamlands” in Dresden:
So, 13.9. • 11.00 Uhr
Di, 16.9. • 19.00 Uhr
Fr, 19.9. • 19.00 Uhr