Foto: Matthias Creutziger
Eben hat man noch, angstvoll das Weinglas umklammernd, das Werk des jüngsten KlangMusikPreisträgers durchlebt, nein: durchlitten! Der kanadische Puppentrick-Animationsfilm ”Madame Tutli-Putli” ist ein fesselndes Charakterportrait eines “weiblichen Charlie Chaplin”. So beschreiben die
Filmemacher Chris Lavis und Maciek Szczerbowski ihre Hauptfigur, der eine komplizierte Nachbearbeitungsphase am Computer menschliche Augen und damit eine schrecklich wirkungsvolle Realität verliehen hat. Die Musik von Jean-Frédéric Messier und David Bryant tut das ihre, die Brutalität, aber auch die Melancholie der surrealistischen Szenerie zu untermalen.
Dann aber auf in den Großen Saal. Jedoch: “Kein Zutritt mit Getränken”, werden Besucher rigoros wieder hinauskomplimentiert. Man sei ja hier nicht im Kino, sondern am Ort der allerhöchsten Kunst!
Tatsächlich herrscht hier keine Kinoatmosphäre, sondern angespannte Stille. Es ist die Live-Musik des Briten Benedict Mason, die drei Stummfilmen Charlie Chaplins neues Leben geben will und die Vorführung so zu einem “ernsten” Konzert adelt. Wie soll man damit umgehen, wenn Filmmusik so viel mehr will als nur dienen?
Mason sah sich selbst im Zwiespalt über dem Versuch, 75 Jahre alte Filme voller “schlechter Witze” adäquat zu vertonen und gleichzeitig diese komödiantische Eindimensionalität aufzufalten. Im Frankfurter Ensemble Modern hat der Dirigent Martyn Brabbins Ausführende, die sich mit Lust dem Versuch stellen, Chaplins Welt mehr als nur flache Gags zu entlocken. Die Streicher werden dabei auch als Perkussionisten und Stimmakrobaten aktiv, wenn es etwa gilt, dem Straßenmob in “Easy Street” oder den russischen Einwanderern in “The Immigrant” charakteristische Farben zu verleihen. Gleichzeitig kommentiert und konterkariert die Musik die Bilder gekonnt und bändigt so deren süßliche Underdog-Romantik. Die beiden Solisten Tora Augestad (Mezzo) und Ivan Ludlow (Bariton) sind nicht auf die filmischen Dialog der Protagonisten festgelegt. Sie unterlaufen eine bloße Begleitung, verfremden und ironisieren die ziemlich vorhersehbaren Plots. Dennoch bleiben auch Fragen, wenn Masons Musik etwa den beiden Liebenden an der Tür zum Standesamt ein Happy End verweigert und den Film in einem “grausam akustischen Meer” (B.M.) versinken lässt. Hat Mason am Ende die wehrlosen Filmbilder nur ausgenutzt?
Die Vereinnahmung früher Slapstick-Filme durch die Avantgarde und ihren Kunstanspruch birgt so unerwartet brisanten Diskussionsstoff, den ein Musikfestival wie die ”Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik” durch kluge Programmwahl moderieren hilft.
Martin Morgenstern
Eine Textfassung des Artikels ist am 6. Oktober 2008 in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abzudrucken.