Vor etlichen Jahren in der Dresdner Semperoper. Mit dem ersten Klingelzeichen füllen sich Parkett und Ränge. Plötzlich erheben sich im Parkett einige Besucherinnen und Besucher von den Plätzen, die sie gerade eingenommen haben, wenden die Blicke zur Mittelloge des ersten
Ranges und begrüßen mit herzlichem Applaus und ehrfurchtsvollem Flüstern die ältere Dame, die sich eigentlich gerade setzen wollte. Die beugt sich vor, lächelt und grüßt freundlich “ihr” Publikum…
Christel Goltz – der Name beschwört Erinnerungen an den Reichtum der Klangfacetten vergangener Dresdner Operntraditionen. Der ungewöhnliche Ruhm dieser Sängerin ist in besonderer Weise Belege dafür, dass der Geist des Musiktheaters als Einheit von Darstellung und Gesang keine Erfindung der letzten Jahre sein kann. Hört man nämlich heute einige der gar nicht so zahlreichen, verfügbaren Aufnahmen der Sopranistin Christel Goltz, beispielsweise als Färberin in „Die Frau ohne Schatten“, als „Antigonae“ in Orffs gleichnamigem Drama, als „Turandot“ oder in einer der Aufnahmen „ihrer“ Partie, der „Salome“ von Richard Strauss, dann muss man zugeben, dass ihr da etliche Kolleginnen des letzten Jahrhunderts gewaltige klangliche Konkurrenz machen können.
Folgt man aber den lebendigen Erinnerungen derer, die Christel Goltz auf der Bühne erlebt haben, nimmt man Kritiken und Schilderungen ihrer Auftritte wahr, dann wird klar, warum die Erinnerung an diese Künstlerin auch fast 40 Jahre nach ihrem Abschied von der Bühne nicht verblasst ist. Die Goltz konnte nicht, jedenfalls bei Wahrnehmung der Klangdokumente, durch pure Schönheit des Gesanges betören. Vom Volumen, von der klaren Diktion, von der Sicherheit in den Höhen, kann man schon überwältigt sein. Bei genauem Hinhören aber merkt man bald, hier fehlt das Bild zum Ton, da muss noch mehr gewesen sein, hier konnte nur eine Seite des absoluten Bühnentalents der Künstlerin festgehalten werden.
Nicht umsonst hat man ihre Gestaltung so expressiver Partien wie die der Salome und Elektra von Richard Strauss, die Leonore in Beethovens „Fidelio“ oder die Marie in „Wozzeck“ von Alban Berg im Hinterkopf. Natürlich hat sie bei ihrem wahrhaft hochdramatischen Talent auch Wagnerpartien gesungen, hat große Erfolge im italienischen Repertoire gefeiert, aber die gewichtigsten Maßstäbe setzte sie wohl, wenn sie „psychologisch vielfältig gebrochene Frauenfiguren zu gestalten“ hatte, wie Jens Malte Fischer in seinem Buch „Große Stimmen“ schreibt.
Nach Dresden kam die junge Sopranistin 1936. Der Dresdner Dirigent Karl Böhm hatte sie am Stadttheater in Plauen entdeckt, der zweiten Station ihres Weges nach dem Engagement in Fürth, im Alter von 23 Jahren, als Chorsängerin und Tänzerin. Zur Sängerin und Tänzerin war die 1912 in Dortmund geborene Tochter einer Hochseilartistenfamilie, deren Eltern und Verwandte als „Goltz-Trio“ auftraten, in München ausgebildet worden. Als ideale Salome-Darstellerin ging sie auch deshalb in die Geschichte des Musiktheaters ein, weil sie entgegen damals üblicher Praxis selber tanzte, den „Tanz der sieben Schleier“ nicht einem Double überließ.
In Dresden blieb es für die junge Sängerin vorerst bei kleineren Partien. Dabei hatte sie in Fürth bereits die Agathe in Webers „Freischütz“ und in Plauen die „Santuzza“ in Mascagnis „Cavalleria rusticana“, die Eva in Wagners „Meistersinger“ und sogar den Octavian im „Rosenkavalier“ gesungen. 1941 erst bekommt sie eine große Partie in der Semperoper, die Rezia in Webers „Oberon“; dann, bis zur Schließung der Oper, jene großen dramatischen Partien, mit denen sie sich einreihte in die Geschichte der legendären Traditionen im Dresdner Semperbau.
Christel Goltz gehört nach dem Ende des zweiten Weltkrieges in der zerstörten Stadt zu den Aktivisten der ersten Stunden, wirkt mit an Aufführungen in den Interimsquartieren der Staatskapelle und der Staatsoper in der Neustädter Tonhalle, im Bühlauer Kurhaus und dann im heutigen Schauspielhaus, für die Zeit als Spielstätte des Musiktheaters „Großes Haus“. Bis 1950 bleibt sie in Dresden. Ältere Opernfreunde erinnern sich an legendäre Aufführungen unter der Leitung von Joseph Keilberth, aber auch an ideologischen Druck auf die ästhetische Freiheit. So stieß die Aufführung von Orffs „Antigonae“ bei den Kulturoberen auf Unverständnis.
Von Dresden aus gastiert Christel Goltz zunächst seit 1947 an der Berliner Staatsoper im Osten der Stadt, dann an der Städtischen Oper im Westen und wird 1951 in das Ensemble der Wiener Staatsoper engagiert, dem sie bis zu ihrem Abschied von der Bühne 1970 verbunden bleibt. Von Wien aus setzt sie ihre Weltkarriere fort, weit über 100 Partien umfasst ihr Repertoire, unmöglich ist es, die Orte ihres Wirkens, an denen sie Maßstäbe setzte, aufzuzählen. Die fast 50jährige erobert das Pariser Publikum als Elisabeth in Wagners „Tannhäuser“ in der Grand Opéra. 1952 war sie an der Covent Garden Oper London die erste Marie in Bergs „Wozzeck“ in England. Als sie 1962 in Tokio als Salome auftrat, war sie die erste Interpretin dieser Partie im asiatischen Raum.
Dass Christel Goltz auch Mozarts Elettra in „Idomeneo“ oder Danna Anna in „Don Giovanni“ und Janáceks „Jenufa“ sang, ist weniger bekannt. Sie bleibt wohl in der Erinnerung die berühmte Salome von Dresden, am Ort der Uraufführung und der Begründung einer Strauss-Opern-Tradition, die mit der Sächsischen Staatskapelle, deren berühmten Dirigenten und den Namen von Sängerinnen und Sängern verbunden ist. Der Name Christel Goltz gehört dazu, und für sie, so hat sie es mehrfach gesagt, gehörte die direkte oder die indirekte Verbindung mit Dresden zu ihrem künstlerischen und persönlichen Leben.
In der Nacht zum 15. November, im Alter von 96 Jahren, ist Christel Goltz in Baden bei Wien verstorben.
Boris Michael Gruhl
(Quellenmaterial, in der Reihenfolge der Abbildungen: Christel Goltz als Antigonae, Marie, Octavian, Ägyptische Helena.)