Ein Leben ohne Gesang kann sich Irmgard Boas nicht vorstellen, die mit acht Jahren ihren Eltern sagte, dass sie Opernsängerin werden wolle. Die Eltern haben es ihr nicht ausgeredet, haben das Singen gefördert. In ihrem Haus im kleinen Dorf Pohritzsch bei
Halle, wo Irmgard Boas am 22. November 1928 geboren wurde, stand das einzige Klavier des Ortes: ein Geburtstagsgeschenk für die 12jährige. Die Mutter hätte sie lieber im Büro gesehen, aber Tochter und Vater einigten sich, den Weg in die Musik zu wagen. Als der Krieg zu Ende war, gründete Irmgard Boas eine Tanzkapelle. Mittwochs, sonnabends und sonntags nahm sie das Akkordeon und sang dazu: Schlager, Operettensongs und leichte Opernarien. Mit dem Geld bezahlte sie die Gesangsstunden bei Elenor Sadowska in Halle.
Entscheidend und bestimmend für die Zukunft der Sängerin wurde die Begegnung mit ihrem Lehrer Werner Reichelt in Dresden. Er erkannte das dramatische Potenzial einer Stimme, die sich mit ungewöhnlicher Leichtigkeit in den höchsten Höhen des Koloraturfaches bewegte. Die Elevin geht nach Görlitz, in einer Orchesterprobe singt sie für die erkrankte Kollegin die Partie der Leonore im Troubadour vom Blatt. Dass sie es wirklich kann und besser noch, beweist sie bald beim ersten Engagement mit großem Solovertrag für Oper und Operette in Köthen. Mit 26 Jahren debütiert sie dort als Tosca.
Nach vier Jahren Erfahrungen in der „Provinz“ entscheidet sich Irmgard Boas gegen den Ruf nach Dessau, dem Bayreuth des Ostens, und für die Herausforderungen in neuen, unbekannten Regionen: sie geht nach Schwerin, wo der junge Kurt Masur als Dirigent für überregionale Aufmerksamkeit sorgt. Mit der Venus im „Tannhäuser“ geht es los, Irmgard Boas gibt der Partie lyrische Qualitäten, lässt es an Dramatik nicht fehlen, so die Presse, das Publikum nimmt die „Neue“ gerne an. In Schwerin singt sie Händel, man bevorzugte damals den bodenständigen Gesang für die Werke des Barock. Hier und später dann am Opernhaus in Erfurt, mit dem Dirigenten Ude Nissen, baut sich Irmgard Boas ihr Repertoire auf. Der Venus folgen Senta, die Leonore im „Fidelio“, die Marschallin, die Küsterin in „Jenufa“, Turandot und weitere große italienische Partien, die Lady in „Macbeth“, Abigaile in „Nabucco“, Aida, Amelia in „Ein Maskenball“ endlich auf der Bühne, die Troubadour-Leonore, mit Helge Rosvaenge als Manrico, Elisabeth in „Don Carlos“ oder Santuzza“ in „Cavalleria rusticana“.
In diese Zeit fällt aber auch ein herber Schicksalsschlag. 1961 hatte Irmgard Boas ihren Vertrag in Schwerin gekündigt, weil Verhandlungen mit Wolfgang Sawallisch für ein Engagement in Frankfurt am Main stattfanden. Am 12. August fährt Irmgard Boas von Frankfurt nach Schwerin, ihre Tochter, drei Monate alt, liegt im Krankenhaus. Einen Tag später kann sie Frankfurt vergessen und die Koffer wieder auspacken. Für sie bleibt der eiserne Vorhang geschlossen. Keine Gastspiele als Solistin für eine Sängerin, die längst auf sich aufmerksam gemacht hatte, die man gerne an größeren Häusern im Westen eingesetzt hätte. Und kein Engagement im Osten.
Was die Achtjährige antrieb, ist nicht vergessen: Ich will singen! Also mit Bahn und Bus quer durch die DDR, freischaffend ohne Agentur, bis eben doch die Einsicht siegt und Erfurt 1964 wieder ein festes Engagement anbietet. Hier kommen zu den genannten Partien auch die Ausflüge ins Reich der Operette, Boulotte im „Blaubart“ und Rosalinde in der „Fledermaus“ und als Besonderheit die Mitwirkung in Gershwins Oper „Porgy and Bess“. Mit der Aida verabschiedet sich Irmgard Boas 1973 von Erfurt, wo sie zur Kammersängerin ernannt wurde. Es geht nach Halle. Hier macht der Dirigent Thomas Sanderling auf sich aufmerksam, und hier kommt jene Partie ins Spiel, mit der die Sängerin für einige Jahre geradezu identifiziert wird. In Halle singt „die Boas“ in der Saison 1979/80 die Salome. Die Künstlerin bleibt dem Hallenser Opernhaus, wo sie den Kunstpreis der Stadt und der DDR erhält, und ihrem Publikum 15 Jahre lang verbunden. Gastverträge binden sie an die Berliner Staatsoper, die Staatsoper Dresden und das Opernhaus Leipzig. Und dann 1985, nach 30 Jahren, mit bis zu 80 Vorstellungen pro Jahr, ein Abschied. Irmgard Boas verlässt die Opernbühne so selbstbestimmt und in der Fülle ihrer Kraft, wie sie sie betreten hat.
Vor fünf Jahren ist Irmgard Boas nach Dresden gezogen. Ihre Schülerinnen und Schüler zogen mit, inzwischen kommen sie aus aller Welt. Camilla Nylund, Klaus-Florian Vogt oder Barbara Krieger seinen genannt. Sie schätzen es, dass die Lehrerin so wunderbar analytisch zu hören versteht, individuell reagieren kann und ihnen vor allem dabei hilft, nie aufzuhören dem persönlichen Idealton zu vertrauen, der persönlichen Schönheit der eigenen Stimme ebenso, weil nur die Identität des Klanges und der Persönlichkeit die Zuhörer in den Bann ziehen kann, weil so erst Schönheit und Charakter zusammenfinden. Der pure Wohlklang allein reicht nicht.
Irmgard Boas 2007 (Foto: privat)
Berechtigt ist auch ihr Stolz, dass die Tochter Christiane Hossfeld als Sopranistin dem Ensemble der Dresdner Semperoper angehört und als Gesangsprofessorin an der Dresdner Hochschule für Musik auf den Spuren der Mutter erfolgreich ist. Ja, sie sei zufrieden, sagt Irmgard Boas, und es möge noch lange so weiter gehen, zu leben und zu singen und dabei zu helfen, dass andere auch einen so erfüllten Weg gehen können. Eben: Singen hilft!
Boris Michael Gruhl
Abbildungen: Irmgard Boas als “Venus” (1964) und als “Turandot” (1978/79)
Eine Textfassung des Artikels erschien in der letzten Ausgabe von „Orpheus“. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier gekürzt abdrucken zu dürfen.