“der Bestürzung Herr werden” (Foto: M.M.)
“Ein Chor ist ein Kollektiv; man spürt sofort ein humanes Pathos”, bemerkte der Komponist Helmut Lachenmann vor ein paar Wochen in Dresden auf einer Podiumsdiskussion und warnte eindringlich vor der Betroffenheitsfalle,
in die ein Komponist zeitgenössischer Chormusik schnell stolpert. Ist das Sujet eines Werkes dann noch so aufgeladen wie im diesjährigen “Gedenkkonzert zur Erinnerung an den 13. Februar 1945” in der Kreuzkirche, steigt auch die Wahrscheinlichkeit für den Hörer, sich von der Musik ungewollt vereinnahmt zu fühlen. Wilfried Krätzschmar (*1944) hat es sich deswegen nicht einfacher gemacht, als er für ein Auftragswerk anlässlich der 800-Jahr-Feier seiner vor einem halben Jahrhundert so geschundenen Heimatstadt erstens einen pathetischen Titel (“doch es wird nicht dunkel bleiben – sequenza vom wohnen in der welt”) wählte und dann auf eine bunte Anzahl sowohl kirchlicher als auch weltlicher Textschnipsel zurückgriff. Den Worten von Günter Eich, Franz Werfel oder Andreas Gryphius ist eines gemein: bedeutungsschwere Tiefe.
Es ist deshalb schwer, nicht ergriffen zu sein, wenn etwa die Knabensoprane intonieren: “Die Stadt hat drei Tage lang gebrannt … Die Toten … verbrannt … in solchen Stapeln”. Im spröden kanonischen Sprechgesang werden die unkrautüberwucherten Ruinen einer Stadt geschildert, die sogleich, als hätte man’s erwartet, ein Kirchenwort chorromantisch durchweht. Kritisiert werden muss zudem, dass dem Chor, den zahlreichen Solisten und den 5 Schlagzeugern (“Percissimo” Ensemble Weimar) kaum wirklich zeitgenössisches Material in Hand und Mund gelegt ist: die zahmen Akzente, die Vibraphon und Röhrenglocken setzen dürfen, ergänzen die altbekannten vertikalen Cluster und atonalen horizontalen Wellenspiele, für die schon Chormusik der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bekannt ist. Endgültig zu prätentiös und für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema zu vordergründig: die Geste des “Ausschwärmens” der Kruzianer ins gut besetzte Kirchenschiff und auf die für den Anlass doch ungewohnt leeren Emporen.
Wie man statt großer Gesten mit tonaler Beschränkung auf Oktavrückungen den nach dem Inferno so schrecklich menschenleeren Ort fast beängstigend greifbar macht; wie man mit ganz bescheidenem Material die allergrößte seelische Not schildert, das hatte der Chor in Rudolf Mauersbergers Motette “Wie liegt die Stadt so wüst” am Anfang des Konzerts gezeigt. Diese klanggewordene Tonlosigkeit – das scheint für viele Dresdner die angemessenere Art, der eigenen Bestürzung Herr zu werden und das Unsagbare irgendwie doch auszudrücken.
Martin Morgenstern
Eine Textfassung des Artikels ist am 9.2.2009 in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.