Unentschiedene Regieleistung, Ironie nicht erkennbar; ein viel zu langer Prozess (Foto: Max Messer)
Ein neues altes Dresdner Kleinod: Das Societaetstheater wurde vor zehn Jahren wieder eröffnet. 230 Jahre zuvor war der 1776 gegründete Freundeskreis „Societaetstheater“, eine Vereinigung
engagierter Laien, die sich dem Theaterspiel verschrieben hatten, von der Friedrichstadt in die Innere Neustadt gezogen; in jenes Gebäude, das nach Beschädigungen und Verfall vor zehn Jahren zu neuem Leben erblühte und dessen Beiträge – Theater, Musik, Tanz und Kommunikationskultur – inzwischen selbstverständlich zur Wahrnehmung der Stadt gehören.
Und just zum Geburtstag stehen die Laien wieder auf der Bühne. Volker Metzler, der überraschungsreiche Theatermann, mischt sie mit „Profis“, die aber in der engagierten Gruppe nicht weiter auffallen. Motive und ganze Passagen aus Franz Kafkas unvollendetem Roman „Der Prozess“, textlich eingerichtet von Lutz Graf, musikalisch vornehmlich durch rhythmische Vorgaben von Karsten Gundermann kommentiert, geben die Vorlage für die Präsentation einer Abfolge von bühnenfest arrangierten Übungs- und Improvisationsergebnissen. Der Dirigent Peter Fanger schlägt den Takt, hält immer wieder beisammen, was mitunter in die Freiheit strebt, und entlockt im zweiten Teil des langen Abends einem hübsch illuminierten Örgelchen zirpendes Gewisper. Raum und Kostüme, vornehmlich schwarz, etwas weiß und bei zwei Damenkleidern ostnostalgisches Dekodesign. Grit Dora von Zeschau bleibt unverbindlich beim genreüblichen Grundton.
Teil eins des Abends, den auch schon nach gut 45 Minuten das Publikum für den ganzen hält und mit Beifall bedenkt, ist auf jeden Fall der gelungenere. Das ist für das Ensemble der mehr als zwanzig Protagonistinnen und Protagonisten eine Abfolge etlicher Möglichkeiten von Wortspielen. Sie jonglieren mit Silben und Lauten, flüstern, schreien, schluchzen und wispern. Sprechen und Gähnen kommt immer lustig, erfährt komische Steigerung mit der gedachten Kartoffel im Mund. Skandieren steht für Gewalt, Bedrohung und Protest. Die Geräusche des Atmens führen zu geschmatzten Küssen. Luft rein, Luft raus, und wieder in das rhythmische Korsett. Ein paar Wortfetzen und Textzusammenhänge lassen schon ahnen und geben Assoziationsraum genug um mitzubekommen, dass es hier offensichtlich um den alptraumartigen Weg durch ein Labyrinth gehen könnte, dass der Versuch einen Ausweg zu finden, in diese kafkaesken Sprachtänze führt, dass Widerstand zwecklos ist, was sich auch in einem Akt selbstverleugnender Verzweiflung jeder der höchst engagierten Protagonisten auf die eigene Haut stempelt.
Im zweiten Teil darf nur noch eine Auswahl der Dramatengruppe auf sie Bühne. Ihre Mitglieder hängen sich an Infusionsschläuche, die aus dem oberen Nirgendwo der Bühne kommen, die eine chormusikalische Zuspielung erst mal in sakrale Stimmung taucht. Dann wird’s animalischer. Die auserwählten der Dramaten arbeiten sich an Stühlen ab, wälzen sich stöhnend am Boden, drücken Pickel aus und lassen ohne erkennbare Ironie so gut wie keinen der inzwischen sattsam bekannten Stadttheaterschocker aus. Als da wären: Grapschen und Fummeln, Schubbern und Blubbern. Man beschüttet sich mit Unmengen weißer gespitzter Bleistifte aus schwarzen Papierkörben, die zum Notdurftkübel werden, entsprechende Geräusche wären ja eh dran, und als weitere Variante des verklemmten Ekeltheaters trieft Apfelmatsch aus den Mündern der verzweifelten Verlierer in einem Prozess, der nicht enden will. Ein mahnendes Totenglöckchen wird überhört. Nachdem als einzige zusammenhängende Textpassage die Legende „Vor dem Gesetz“ durch einen Protagonisten deutungsbeflissen vorgetragen wird, ist der Prozess noch immer nicht zu Ende. Wie schwer es doch ist, 100 Minuten zu füllen… Und noch ein Griff in die Kiste, ganz tief, so im alten Volksbühnenton, die Endlosschleife, immer noch Eins drauf, und jetzt alle, Musikantenstadl, wir geben es denen, die nicht da sind, jetzt aber kräftig!
Am Ende ist dieser Prozess unentschieden. Dem so bewunderungswürdigen wie kreativen Potenzial der Gruppe steht eine immer wieder zu unentschiedene Regieleistung gegenüber, der es vornehmlich am Mut zur Auswahl fehlt und am Vertrauen darauf, dass weniger mehr wäre und vor allem produktiver im Versuch, Wege in die angestrebte emanzipierte Rezeptionshaltung zu finden. Der Zuseher ist nämlich emanzipierter, als die Macher mitunter glauben mögen.
Boris Michael Gruhl