Der Geburtstag steht bevor. Wir wollen uns verabreden zum Gespräch. Nicht so einfach, denn die Dresdner Kammersängerin hat sich auch nach ihrem Abschied von der Opernbühne nicht zur Ruhe gesetzt. Ohne Singen geht es einfach nicht. Sie ist wieder da, wo
es begonnen hat, sie singt zur Gitarre, jetzt in Altenheimen. Es macht Spaß, die eigene Freude am Singen mit anderen zu teilen, gemeinsam und im Vortrag von Kunstliedern zur Gitarre. Und das, wie man sieht, hält auch fit, gilt es doch einer so rüstigen, wie wachen, interessierten und aktiven Künstlerin herzlich zu gratulieren. „Da sehen, Sie, das ist die Gitarre, die ich als Kind geschenkt bekam und auf der mir meine erste Gesangspädagogin, Käthe Heine-Mitzschke die Griffe beibrachte“, sagt sie und zeigt ein Instrument ohne Saiten mit deutlichen Gebrauchsspuren. Ja, meint sie, die Enkel hätten dann auch versucht „ihre“ Musik darauf zu spielen.
Die musikalische Begabung, das gesangliche Talent waren da, aber erst mal absolvierte die spätere Altistin eine Tischlerlehre und schloss mit der Gesellenprüfung ab. Aber es zog die junge Frau, inzwischen auch ausgebildet zur Technischen Zeichnerin, doch zum Gesang, zunächst für vier Jahre nach Radebeul in den Mozartchor, einem Berufsensemble, das 1950 „Chor des Landes Sachsen“ hieß. Weitere Ausbildung an der privaten Opernschule von Professor Rau-Hoeglauer, mit unvergesslichem dramatischem Unterricht bei Erhard Fischer und dankbarsten Erinnerungen an die verehrte Lehrerin Professor Annemarie Rauch, durch Vermittlung des Zentralen Bühnennachweises der DDR 1954 in das Studio der Staatsoper Dresden, deren Ensemble Ilse Ludwig 40 Jahre angehören wird, in dem sie über 80 Partien singt.
Und schon beim Versuch, von Lieblingspartien zu sprechen, wird es schwierig, eine zu finden, die an erster Stelle stehen sollte. Ja, der Orpheus, den sie in drei unterschiedlichen Inszenierungen sang, der liegt ihr am Herzen, weil Musik und Text hier ja vom Wesentlichen handeln im Bezug auf das besondere Instrument der menschlichen Stimme und der Kunst des Singens. Als sie die Partie 1957 zum ersten Mal vorsang, sagte der Dirigent: „Singen Sie, ich begleite Sie“. Das hat sie nicht vergessen, denn es war ja kein Geringerer als Lovro von Matacic. Und dann sind es doch einige Partien, von denen wir sprechen, die stärkere Erinnerungen wecken. Natürlich, über 50 Mal „Penelope“ in „Die Heimkehr das Odysseus“, im Kleinen Haus mit der Passage am Schluss „Für alle deine Wunden will ich dir Heilung geben“. Man sah ja, wie so etwas beim Publikum ankam, man wurde von einem treuen Publikum getragen, man wurde gefördert von Regisseuren wie Erhard Fischer, Erich Geiger, Carl Riha und später von Harry Kupfer, von dem sie mit Bewunderung spricht. Ja, das war doch neu, nicht gesagt zu bekommen, was man machen solle, sondern eine Rolle zu entwickeln in einem Prozess, das war nicht immer leicht, aber es hat doch viele neue Seiten und Möglichkeiten eröffnet.
Wie mit den Regisseuren, so mit den Dirigenten, erinnert sich die Sängerin. Beethovens Neunte etwa, Arvid Jansons machte es am schönste, Igor Markevitch am schnellsten, bei Rudolf Neuhaus fühlte man sich absolut sicher, besondere Abende waren die unter der Leitung von Herbert Blomstedt oder Martin Turnovsky. Es war ja so, dass mit Ilse Ludwig und Brigitte Pfretzschner zwei Fachvertreterinnen im Ensemble waren und damit klar war, dass sie sich die entsprechenden Partien zu teilen hatten, man musste ja nicht darum bangen, ob man auch besetzt wurde. Da gab es dennoch keine Routine, denn zu unterschiedlich waren die Aufgaben, zu differenziert die Ideen der Regisseure und die Ansprüche der Dirigenten, dazu immer wieder sehr ungewöhnliche Aufgaben. Ilse Ludwig war Anna I in „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“, inszeniert von Tom Schilling und sie sang bis zu ihrem Abschied von der Bühne 1994 die Partie der Filipjewna in Harry Kupfers Inszenierung „Eugen Onegin“, in der Semperoper.
Ja, das waren besondere Momente, hier zu singen, sagt die Dresdnerin, die das „alte“ Opernhaus kannte, oberhalb vom Hauptbahnhof die Bombardierung erlebte und überlebte, es als Geschenk betrachtet mit eingezogen zu sein in das wiedererstandene Theater, mit einer ersten und für sie letzten Premiere sogar, als Mary 1988 in „Der fliegende Holländer“, inszeniert von Wolfgang Wagner . Ach doch, eine Partie gibt es, die liegt der Jubilarin sehr am Herzen, das Fischweib in Paul Dessaus Oper „Die Verurteilung des Lucullus“ , von 1965 bis 1970 stand das Werk auf dem Dresdner Spielplan, wir sprechen darüber und schon summt sie „Die Klage des Fischweibs“. Und ohne groß zu überlegen, auf die Frage, was sie sich denn wünsche zum Achtzigsten, sagt Ilse Ludwig: „Macht den Lukullus noch mal, ich singe euch das Fischweib.“
Boris Michael Gruhl
(Foto: M. Creutziger)
Eine Textversion des Artikels ist am 20. Februar in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.