Die Musik des Dresdner Komponisten Jörg Herchet ist mit den Jahren sehr viel zugänglicher geworden. Und die Regisseurin hat für sich entdeckt , “wie wichtig es ist, sich frei und emanzipiert dem Material gegenüber zu verhalten”.
(Foto: M. Creutziger)
Es war beim Anblick der Requisiten zu befürchten und wurde während der ersten zehn Sekunden Gewissheit: das Regieteam hatte die Kammeroper von Jörg Herchet mit Bedeutung so überladen, dass sie sofort auf Grund ging. Gut, die Regisseurin Julia Haebler sparte an allzu platten Sex-and-Violence-Provokationen, die unlängst das Leipziger Publikum anhand einer Inszenierung ihres Kommilitonen Michael von zur Mühlen zu wütenden Brüllorgien trieben. Ansonsten aber waren zu vieles abzuhaken, was inzwischen nur noch als müder Abklatsch gelten kann: Klebeband auf nackter Haut. Hartz-IV-Wohnzimmer. Extatisches Auf-dem-Boden-Wälzen. Vergewaltigung, überhaupt unnötiges Zelebrieren von Gewalt. Kreidemenetekel. Guantanamo-Kapuzen. Videoprojektionen, gern mit Banalitäten in Zeitlupe. Und so weiter. Es ist schon bitter, wenn die Musik asiatische Ästhetik karikiert (am Cello gefordert: Thomas Rechenberg) und dem Regieteam nichts anderes einfällt, als die handelnden Personen Kimono-artige Hemden überstreifen und gleich wieder wegstrippen zu lassen. Warum muss denn überhaupt jedes Reizwort der greisen Überväter des Regietheaters wieder und wieder zitiert werden; nur um über die ursprüngliche Werkaussage hinaus jedes Mal für die maximale Verstörung zu sorgen?
Das Publikum im ausverkauften Saal der kleinen szene ertrug’s jedenfalls brav, mancher schloss die Augen und hörte auf das, was Herchet und Milbradt da zusammengefügt haben und Gelsomino Rocco kongenial dirigierte: ein feines Kammerspiel über das Finden und Verlieren der Leidenschaft. Ein Sprecher (Ahmad Mesgarha) sorgt mit seiner ironischen Selbstbeobachtung á la Wilhelm Genazino für Bodenhaftung. Carola Schwab muss in Theater-Maske, blonder Perücke und Brautkleid Tanz als figuratives Klischee abliefern. Die exzellenten Sänger Andreas Petzold und Clemens Heidrich exerzieren mittels Gehhilfen das quälerische Auf und Ab menschlicher Beziehungsdramen, während die ebenfalls ausgezeichnet singenden Sofi Lorentzen und Lin Lin Fan kommentieren, was da in der “Arena” (Bühnenbild: Nina Berzbach) an Beziehungskisten so abgeklappert wird.
Mithin bleibt Herchets Musik nicht frei von Trivia. Am Ende, wenn die Akteure wieder auseinanderdriften, entpersonalisiert der Komponist die Musik, indem er hallende Erinnerungsfetzen vom Zuspielband (Mitarbeit: Michael Flade) repetieren lässt. Langsam wird es auf der Bühne dunkel und kosmisch leer. Und wieder einmal müssen wir uns vornehmen: gleich morgen machen wir es besser und schreiben unser eigenes vorzügliches Kammerspiel und inszenieren es gleich selbst, um Regie-Unfällen wie dem am Freitag vorzubeugen.
Anders Winter
Eine Textfassung des Artikels ist am 9. März in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.
Nächste Aufführungen: 12./14./15./21. März, jeweils 20 Uhr in der kleinen szene.
Am 12. März 2009 besteht im Anschluss an die Vorstellung die Möglichkeit zum Publikumsgespräch.