Unerschütterlich: „Cabaret“ im Nostalgiezelt am Gasometer (Foto: H. König)
Man muss es erst einmal finden, das nostalgische Spiegelzelt in der Dresdner Gasanstaltstraße Nr. 10. Aber wenn man es dann betritt, ist man doch recht froh, sich
auf den Weg nach Reick gemacht zu haben. Man fühlt sich wohl im inzwischen ja auch schon 25 Jahre alten Nachbau eines der belgischen Jugendstilzelte mit Teakholz, Plüsch und knarrendem Boden, der zudem auch noch ein bisschen schwankt. Gerd Schlesselmann, der so risikobereite wie besessene, vor allem nicht zu entmutigende Theatermann, hat es im letzten Oktober in Dresden für eine Musicalproduktion des Theaters wechselbad der Gefühle aufgeschlagen. In wenigen Wochen, Mitte April, muss er es abrechen. Ob und wo er es wieder aufbauen kann ist ungewiss.
Aber noch steht es, und noch wird gespielt, noch kann man Platz nehmen an den Tischen unterm rot samtenen Plafond, sich bedienen lassen und den feschen Kit Kat Girls aus Berlin, Anfang der 1930er Jahre, zuprosten. Hier wird „Cabaret“ das Musical von Joe Masteroff mit der Musik von John Kander und den Gesangstexten von Fred Ebb, nach Christopher Isherwoods Roman „Leb wohl Berlin“ und John van Drutens Stück „Ich bin eine Kamera“, gegeben. Ja richtig, da gab es einen Film, einen grandiosen, und es wäre töricht, angesichts dieser Dresdner Produktion in der Regie von Gerd Schlesselmann, davon zu reden, man könne jetzt den Film vergessen. Denn man kommt auf dem wunderbaren Tingel-Tangel-Nudelbrett der Bühne von Ella Späte im Zelt gar nicht auf die Idee, den Film zu kopieren oder auch nur andeutungsweise zu behaupten, man mache hier das ultimative Musicaltheater. Dabei gibt es gar keinen Grund, zu bescheiden zu sein, denn es gelingt mit einem liebenswerten Ensemble höchst individueller Darstellerinnen und Darsteller eine so unterhaltende wie berührende Geschichte zu erzählen, in der alle Personen mit ihren kleinen Geschichten vor der großen Geschichte des beginnenden Nationalsozialismus ins Licht gesetzt werden. Niemand von ihnen wurde bisher vom Leben mit Samthandschuhen angefasst. Das wird sich auch nicht ändern und das wissen sie.
Wir erleben sie in Momenten ihres Verhaltens, wenn sie versagen, wenn sie groß sind, wie sie alle daran scheitern, dass ihre Liebe zu klein ist. Da haben alle sehr starke und überzeugende Momente. Fangen wir mit der „älteren“ Generation an, die Zimmerwirtin Frl. Schneider und der sich ach so deutsch fühlende jüdische Obsthändler, Herr Schultz. Gerade ist der zweite Frühling für sie angebrochen, da ist der kleine Traum von der Zweisamkeit auch schon vorbei. Rita Schrem und Hans-Georg Pachmann mit natürlichem Spiel und herzlichem Ton, wobei es ihnen wie allen Protagonisten bestens gelingt, die Übergänge vom Dialog in den Gesang bruchlos zu gestalten. Dominik Schiefner als Clifford Bradshaw, der junge Amerikaner mit seinem Roman im Kopf, den er weder in Berlin noch irgendwo auf der Welt schreibt, zunächst von autistischer Scheu vor Berührungen, immer etwas zu gefasst, um dann umgehauen zu werden, von der Erfahrung, dass ein Augenblick vergänglich ist, Frauen, seine erste Liebe Frl. Sally Bowles zumal, ganz anders ticken, und jeder seinen Weg gehen muss. Dieses Revuesternchen spielt, singt und tanzt Nicola Ruf. Die kleine Lust auf Leben mit flinken Beinen, das liebeshungrige Herz auf der lockeren Zunge, und die schönen Töne ihres bisweilen zärtlich jazzigen Gesangs.
Und ein Typ ist dabei, der hat immer einen Song bereit. Er lockt uns ins Kabarett der Eitelkeiten, lässt possierliche Geldsäckchen tanzen, macht Witze über politische Vorgänge die anderen das Leben kosten, und scheint am Ende eine Mischung aus unsterblichem Schweyk und Kasper mit seinen geröteten Wangen im Frack auf nackter Haut, die es um jeden Preis zu retten gilt. Steffen Friedrich ist der Conférencier, so ein väterliches Stehaufmännchen zwischen den herzhaften Geschöpfen seiner Kit Kat Girls.
Rolf Kühn hat diese zweieinhalbstündige Fassung musikalisch einstudiert, die Intimität des Raumes macht trotz Verstärkung das angenehme Maß eines Kammerspiels möglich. Lizzy Melón und ihre achtköpfige Berliner Damenkapelle sorgen für angemessenen Sound. Angelika Forners Choreografien spielen gekonnt mit Klischees, worauf sich das Ensemble gerne einlässt. Die Damen des MusicalChoresDresden aus Cornelia Dreses Werkstatt übernehmen etliche Aufgaben, sind dienstbare Geister, oder auch solche die man rief, solange ihr augenverdrehter Heimatkitsch ungefährlich erschien, die aber nicht mehr los wird, wenn sie die Arme zum Gruß recken und der Blick stur wird. Die Geister sind unter uns.
Das Stück geht nicht gut aus, fünf einsame Herzen. Die Show geht weiter. Der Applaus ist sehr herzlich. Noch ein Glas, dann verlöschen die Lichter, draußen ist es kalt. Aber die Geschichte im Zelt, die lässt einen nicht kalt.
Boris Michael Gruhl