Spielte das “Alte Europa” gegen die “Neue Welt” aus: Gail Archer (Foto: Steve J. Sherman)
Die Abendsonne schien noch durch die Emporenfenster, als Gail Archer das Alte Europa gegen die Neue Welt antreten ließ – und damit
weder dem einen noch der anderen einen Gefallen tat. Beliebigkeit schien vorzuherrschen; in den Interpretationen, deren Temposchwankungen den Hörer wie auf einem Schiff im Sturm hin- und herwarfen; in der Registrierung, die mal naiv, mal zu manieriert erschien (etwa in der Sesquialtera-Registrierung in Heinrich Scheidemanns simplem “Magnificat”; und am allermeisten in der Werkauswahl, in dem, was dem Publikum im einzelnen zuzumuten sei. Archer begann mit Buxtehudes Präudium g-Moll, raste über Bach zu einem bemüht akademischen Mendelssohn-Werk (Sonata Nr. 3 A-Dur op. 65) und stürzte sich dann in einen knallbunten Blumenstrauß der Neuen Welt: ein “Praeludium” op. 200 ihres Doktorvaters, dessen einziger Zweck darin zu bestehen schien, die Dissonanz nicht als Stil-, sondern als vordergründiges Kontrastmittel zu biederer Duruflé-Harmonik einzusetzen; ein besänftigend gutmütiges “Wondrous Love” von Samuel Barber und schließlich Vincent Persichettis sperrige, fast unzugängliche “Sonate für Orgel” op. 86. “Auftragswerke quer durch die Jahrhunderte” hatte Gail Archer ihr Programm überschrieben. Es ließe sich wohl kaum ein beliebigeres Motto für ein Kirchenmusik-Konzert finden.
Martin Morgenstern