Foto: Dominik Mentzos
Nur 100 Zuschauerinnen und Zuschauer haben Platz im kleinen Kuriositätenkabinett des William Forsythe, das er in den großen Saal des Festspielhauses von Heinrich Tessenow, dessen Architektur auch als Wunder des umbauten Lichtes angesehen
werden kann, installiert hat.
Das Kabinett ist weiß, es könnte eine unaufgeräumte Werkstatt sein, ein Kinderzimmer für Erwachsene, die nie erwachsen geworden sind voller Poster und Fetzen davon mit Abbildern der Kindmonster, ihrer Gäste und ihrer Idole, als die sie sich gerne sehen. Ein ziemlich zerrütteter Traumbunker mit Garderobenspiegeln und Mikrophonständern. Spieglein, Spieglein, so die Spiele, oder, hört mich denn keiner, so die verzweifelten und bis zur Absurdität getriebenen Versuche der Gäste und Bewohner dieses knallbunten Folterkabinetts, auf sich aufmerksam zu machen.
Wer zu den 100 Auserwählten gehört und einen der heiß umkämpften Plätze abbekommen hat, trifft in 90 wunderbunten Minuten auf eine so schreiend komische wie abgrundtief traurige und einsame Schar von 14 selbsterwählten Himmelskomikern und Höllengeistern in einer so selbstmörderischen wie piratenhaften Supershow der Eitelkeiten auf jenem Laufsteg, zu dem der Weg nur über Mord und Todschlag am eigenen Körper führt.
Das alles, ohne auch nur den Anflug eines moralischen Zeigefingers sich für Millimeter erheben zu lassen. Nein, das alles mit einer wunderbaren großen Liebe zu den selbsternannten Opfern und ihren Priestern, die sich ganz sicherlich auf beiden Seiten des Theaters befinden. Die Einen spielen, tanzen, quasseln oder singen ihr Glück und Unglück so lust- und fantasievoll wie selten in den Weiten des Forsytheschen Kosmos aus und die anderen sehen ihnen, sofern sie bereit sind, sich darauf einzulassen, mit ebensolcher fantasiebeflügelnden Lust zu.
Dass durch diese Schatzkammer des schönen teuren Scheins ganz offensichtlich eine Räuberbande gezogen ist wird offenbar wenn eine Piratenhorde wie aus dem Bilderreservoire der Kinderabenteuerträume im dunklen Bühnenraum hinter dem weißen Kabinett sich ins Bild setzt, als gelte es die Räuber heilig zu sprechen und ihre Erscheinungsformen endgültig in den Kanon der Andachtsbilder aufzunehmen.
Irgendwann mischen sich die Welten, die Räuber und die Beraubten verbrüdern sich. Und alle, die einäugigen Piraten aus dem Schatzinselrepertoire, die alte Diva mit Anspruch auf geschlechtslose Unsterblichkeit oder das singende Wesen mit Pingpong-Bällchen im Mund und an den Brüsten, sie unterwerfen sich einer nervensägenden Quasselstrippe, für die jeder Tischtennisschläger zum Spiegel wird. Das ist eine so wunderbare Kunstquatscherin, die von der Tänzerin Yoko Ando hinreißend gespielt wird und der es höllischen Spaß macht so gehorsam wie selbstlos nachzuplappern, was ihr der Meister im Ohr Wort für Wort mit Angaben der Tonhöhen aus der offenen Galerie der Tontechnik vorgibt.
Die Kategorien sind irgendwann in schönste Verwirrung geraten und streifen himmlische Gefilde, in den sich die Frage danach was männlich und was weiblich ist schon längst erledigt hat. Und wenn wir schon glucksen vor Lachen, wenn wir uns fragen, ob wir wirklich noch bei dem William Forsythe zu Gast sind, der am gleichen Ort sein toternstes Körperspiel beim existenziellen Nachbuchstabieren der Menschenrechtserklärung präsentiert hat, dann setzt er noch eins drauf. Die Kinderaugen werden größer. Ein Finale von dem jedes Revuetheater nur träumen kann, der kleine Kasten in dem wir sitzen wird zur Welt und diese zum Laufsteg für eine Parade aus Genitalien auf Beinen, laufenden Tüten und Sonnenbrillen im Stechschritt, Frisuren mit Füßen, Körperobjekte in Bewegung, Riesenstiefel mit Menschenresten darin. Ein saukomischer Totentanz im Schlachthof der Körperwelten. Ein unblutiger Mordsspaß, der nur von der Wirklichkeit seine traurige Grundierung erhalten konnte.
Denn während Forsythes schreiende Love-Parade in Dresden über den Laufsteg des Theaters ging, hörte am anderen Ende der Welt das Herz eines 50jährigen Menschenkindes, das seinen Glauben an die Körperlichkeit mit dem Opfer des eigenen Körpers bezahlt hatte, auf zu schlagen. „The Returns“, der Song von Rickie Lee Jones.. die wiederholte Zeile, „One of these days“, das ist der leise Schluss von Forsythes neuem Stück. Den hatte er gewählt, bevor Michael Jackson starb. Aber wenn er uns entlässt, nachdem die wummernden Attacken von Thom Willems vorbei sind, dann klingt er wie ein trauriges Schlaflied. Und einer dieser Tage ist wieder zu Ende.
Boris Michael Gruhl