Hieß es im Sommer vor einem Jahr an dieser Stelle ein Dresdner berichtet aus Riga, so kommen meine Berichte in diesem Jahr aus Erl in Tirol. Ein Dorf am Inn in der Kufsteiner Ferienregion mit gut 1000 Einwohnern und einer großen
Tradition. Seit 400 Jahren wird hier aller sieben Jahre ein Passionsspiel aufgeführt, die Hälfte der Dorfbewohner ist beteiligt, das Interesse im In- und Ausland ist enorm, handelt es sich doch hier um die älteste erhaltene Brauchpflege dieser speziellen Ausprägung religiöser Inszenierung im deutschsprachigen Raum. 1959 Jahre bekam der Ort ein neues Passionstheater nach Plänen des Architekten Robert Schuller, einen imposanten Bau der damals beliebten, vornehmlich katholischen Sakralarchitektur aus Beton, wie man ihn in westdeutschen Diözesen oftmals sieht. Hier aber, im saftigen Grün des Inntals, vor einem schroff aufragenden Gebirgsmassiv und den Höhenzügen jenseits des Flusses davor, wirkt der Anblick gänzlich anders, anziehend, einladend. Aus der Ferne hat es den Anschien als schwinge sich ein weißes Siegesbanner triumphal in die Höhe, was auf die Bauweise zurückzuführen ist, die einer Spirale ähnelt und schneckenförmig das Gebirge in die Ebene überführt.
Das schlichte Innere des hohen Raumes mit der offenen Balkenstruktur des riesigen Daches erinnert an eine Scheune und bietet auf steil ansteigenden Rängen vor einer Bühne im Breitwandformat 1500 Menschen Platz. Die Akustik ist phänomenal, sie werde immer besser, das käme vom Holz, das nur den natürlichen Erwärmungen und Abkühlungen ausgesetzt sei, so die Experten. Konzerte fanden hier immer statt und fanden ihre Zuhörer.
1997 gründete der international renommierte Salzburger Dirigent Gustav Kuhn hier die Tiroler Festspiele und ähnlich wie bei den Passionsspielen gelang es ihm auf vielfältigste Weise die Bewohner des Ortes zu integrieren. Und dies nicht nur als Helfer und Platzanweiser, nein so wirken mitunter so gut wie alle Kinder in entsprechenden Szenen mit und die Herren der Feuerwehr sind in jeder Beziehung für Wagners Feuerzauber verantwortlich. Dass Gastwirte und Zimmervermieter mitspielen versteht sich. Kuhn, dessen Lehrer Swarowsky, Maderna und von Karajahn waren, der Chefpositionen an ersten Opernhäusern in Deutschland und Italien innehatte, zuletzt als Komponist hervortrat und für die Pariser Oper Janaceks „Tagebuch eines Verschollenen“ instrumentierte, strotzt vor Energie, seine Musizier- und Fabulierlust führt ihn immer wieder auf neue und ungewöhnliche Wege. Bei ihm kann Wagner, dessen italienische Traditionen er achtet, unterhaltend sein, und selbst einem so mordsmäßigen Werk wie der „Elektra“ von Richard Strauss kann er heitere und ironische Züge verleihen.
Mit dem fast 130köpfigen Orchester der Tiroler Festspiele, vornehmlich jung und international zusammengesetzt hat er sich ein so kostbares wie tragbares Fundament geschaffen und die beim Label col-legno vorliegenden Einspielungen, zuletzt Wagners „Parsifal“ belegen den Stand dieses Ausnahmeorchesters im internationalen Festspielvergleich. So konnte in Erl im Sommer 2001 der „Ring“ geschlossen werden und die zyklischen Aufführungen folgten, deren Höhepunkt eine Aufführung der gesamten Tetralogie innerhalb von 24 Stunden war. Anlässlich der zehnten Festspiele verkündete Kuhn dass der Ring sieben Teile habe, und er fügte in den Aufführungszyklus entsprechend der Entstehungschronologie eine Lesung des Meistersinger-Librettos, eine Aufführung „Tristan und Isolde“ ein und ließ den dritten Aufzug „Siegfried“ separat spielen.
In diesem Jahr, kombiniert mit einem reichen Konzertprogramm stehen „Die Meisteringer von Nürnberg“ und „Fidelio“ als Neuproduktionen auf dem Programm, das mit der Wiederaufnahme einer „Elektra-Produktion“ aus dem Jahre 2005 eröffnet wurde. In der zweiten Aufführung gilt der stärkste Jubel dem Orchester, das wie immer hinter der Szene sichtbar mitspielt und für mich auch nach etlichen Erler Begegnungen in dieser Art konkurrenzlos bleibt. Die Menschen der blutrünstigen Handlung, vor 100 Jahren in Dresden uraufgeführt, sind optisch einmal vor dem riesigen Anspruch des Orchesters, dazu vor den sieben mordsmäßig großen herrschaftlichen Stühlen von Falko Winter viel zu klein. Sie nähern sich mit ihren Mitteln, spielerisch und gesanglich in Lenka Radeckys Kostümen, die ein Crossover durch Epochen und Spielarten assoziieren, einem Mythos dessen Klanggewalten sie alle hinweg fegen könnten. Der Mythos selbst nimmt Gestalt an, eine Tänzerin beschwört den Geist der Musik an einer Art Urorgel, bewegt die Menschen, ordnet und führt sie, reißt am Ende selbst Elektra hinein in ein mächtig wogendes rotes Tuch. Das Orchester verdeckt, einzig Klang, Tanz und innere Bewegung, aus der Tiefe die menschliche Stimme der einzig tragischen weil zum Weiterleben verurteilten Chrysothemis. Die wird man selten so lichtvoll erleben wie hier bei der ausgezeichnet singenden Italienerin Michela Sburlati. Die Elektra der jungen Mona Somm ist ein Ereignis, überraschend und ungewöhnlich, dramatische Kraft und lyrische Tragik. Martina Tomcic hat als Klytämnestra im enorm an Prägnanz und Überzeugungskraft gewonnen und liefert sich ein spannendes Duell mit ihrer Tochter, Fleisch von ihrem Fleisch. Markante Töne hat Michael Kupfer als Orest, dazu die zarteren der geschwisterlichen Liebe. Richard Decker, ein Aegisth im Outfit einer strammen Witwe aus Wilmersdorf, wie einstmals in der „Linie 1“, dazu ein großes Ensemble aus dienstbaren Damen und Herren der unterschiedlichsten Arten, nehmen am Ende Applaus und Jubel entgegen, und Gustav Kuhn, der so übermütige wie offensichtlich glückliche „Erlkönig“ hebt vor Freude seine Protagonistin hoch in die eben noch vor Unheil tosenden Lüfte.
Boris Michael Gruhl