Kerstin Kunert betreut ihre Schützlinge jetzt seit sechsundzwanzig Jahren: "Die Großen achten auf die Kleinen, das war schon immer so. Ich achte vor allem darauf, dass sie viel gemeinsam herumtollen, damit sie Muskeln an den Beinen kriegen!"
Vielleicht haben Sie es gerade noch gemerkt – hier handelt es sich nicht um die jungen und älteren Kruzianer, sondern um Wachtelkönige im Dresdner Zoo. Das Zitat stammt aus der beliebten Dokusoap »Dresdner Schnauzen«, deren jüngste Staffel gerade im ZDF lief. Dokusoaps sind ein weichgespülter Auswuchs des in den neunziger Jahren beliebten Reality TVs mit Elementen der Seifenoper. Jana von Rautenberg bekam vom Mitteldeutschen Rundfunk vorletztes Jahr den Auftrag, eine solche Dokusoap über den Dresdner Kreuzchor zu drehen.
Die Fernseh-Regisseurin bekennt im Beiheft zur ersten DVD, die Kruzianer bis dato nur aus dem Fernsehen gekannt zu haben; ein frischer, unverstellter Blick auf den Chor ist damit also garantiert. Es war dann wohl der Quotendruck, der dazu führte, dass die gesamten zwölf Folgen der Serie über außer dem halbminütigen Gesang im Speisesaal nicht ein einziges musikalisches Werk im Ganzen erklingt. Stets sind da nur Werkanfänge, die zumeist disharmonisch in den Schluß überblendet werden. Die Hintergrundmusik, die auch hier zum größten Teil aus recht naiv zusammengemixten Computerklängen besteht, tut ein übriges: ich gestehe, dass ich mit der Ästhetik der Serie »Engel, Bengel und Musik« Schwierigkeiten hatte. Wenn sich schon im Titeldesign spiegelverkehrte Noten tummeln, weiß der musikaffine Zuschauer sofort, an welche Zielgruppe diese Serie gerichtet ist. Technische Schnitzer (Windgeräusche, Übersteuerungen etc.) fallen da kaum noch ins Gewicht.
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Den engen stilistischen Vorgaben des Fernsehformats "Dokusoap" entkommt Frau Rautenberg nur in wenigen Momenten. Zu verlockend schien es ihr, Aussagen wie die des einzigen aktiven Counter-Tenors des Chores ("Ich hab gedacht: Scheiße, jetzt wirste ne Schwuchtel") wieder und wieder zu zelebrieren. Auch auf der DVD »Die neuen Folgen« wird besagte Szene noch einmal wiederholt. Szenen wie “heimlich beim Lateinhausaufgabenkopieren erwischt” erwecken den Verdacht, gestellt oder zumindest nachgestellt zu sein. Erfrischend ehrlich wirken dagegen die wenigen Interviews mit Kruzianern. Keiner von ihnen hat es nötig, Posen und Phrasen nachzuahmen, auch wenn natürlich manchmal die Nullinformation regiert. Über das Ausweichquartier des Chores in Dresden-Prohlis, über die Schwierigkeiten, dort die Abiturprüfung zu schreiben, bekommen wir von einem Abiturienten zu hören: "na, da hab ich nur, schreib ich also demzufolge dann hier… im Ausweichquartier… was anderes bleibt mir dann wohl nicht übrig. Muß ich wohl. Wohl oder übel. Also übel – aber, muß eben." Aha.
Die vom Filmteam dramaturgisch hochstilisierte Kandidatur von "Johnny" zum Hauspräfekten: sie scheitert letztendlich. Es ist dies ein gutes Zeichen dafür, dass sich die Kruzianer nicht von dem ganzen Hype korrumpieren lassen. Das Amt des Hauspräfekten tritt still und leise ein Kruzianer an, der es offenbar abgelehnt hat, vor der Kamera zu erscheinen. Überhaupt scheint es schwierig gewesen zu sein, den privaten Interessen verschiedener Chormitglieder nachzuspüren. Was die Kruzianer in ihrer karg bemessenen Freizeit außer Fußball noch alles tun, wird in der Serie nicht öffentlich. Und auch über den Chorleiter Roderich Kreile erfährt der Zuschauer fast nichts. So nah die Kamera ihm manchmal ist, so unnahbar wirkt der Kreuzkantor bis zuletzt.
Bewundernswert ist allemal, wie eng einige Sänger die Fernsehleute an und in ihr Alltagsleben gelassen haben. Auch wenn diesmal auf die vielleicht bekannteste Szene der letzten Kreuzchor-Dokumentation aus den neunziger Jahren – die Kruzis in der Sauna – verzichtet wurde: Der Kameramann filmt nicht nur während eines Konzertes ungeniert auf der Bühne die Reihen der Kruzianer (was verschiedene Zuhörer des nämlichen Kreuzchor-Konzerts zu Bemerkungen hinriß, die hier besser nicht wiedergegeben werden), sondern wühlt, während "die Jungs" Probe haben, gemeinsam mit einer sorgenden Mutter in den Schränken des Alumnats. Man hört, mit welcher Musik Kruzianer sich von ihrem Handy wecken lassen (die Titelmelodie der “Sendung mit der Maus”), und zu welcher sie einschlafen (Wagner).
Wohltuend ist, dass sich die Filmer zurücknehmen können und die ach so joviale Hintergrundstimme hin und wieder schweigt, wenn die Bilder für sich sprechen. Die Tränen eines Kruzianers, dem wegen seiner mangelhaften schulischen Leistungen versagt ist, eine Vesper mitzusingen, müssen nicht noch pathetisch kommentiert werden. Deswegen zum Schluß ein großes Kompliment für das erneute Wagnis, ein so heikles Projekt überhaupt wieder einmal zu schultern. Und uns allen ein Trost: auch das Zeitalter der Doku-Soap, deren Ästhetik über den Zeitgeist viel aussagt (vergleiche etwa eine Dokumentation über die Wiener Sängerknaben von 1993), ist endlich. Der Kreuzchor hat schon ganz andere Sachen überstanden.