Vor einem Jahr starb der Komponist Mauricio Kagel, einer der kreativsten Köpfe des 20. Jahrhunderts, der Töne, Botschaften, Aktionen, Film und Theater zu originären Werken seiner ganz persönlichen Handschrift formte. Unverwechselbar war Kagel in allen seinen Schaffensphasen, auch in seinen letzten Werken, in denen sich das theatralische Aktionsmoment wieder in instrumentale, sorgfältig melodisch und harmonisch ausgestaltete Gesten verwandelt. Erst im April 2009 wurde Mauricio Kagels letztes Werk "In der Matratzengruft" in München uraufgeführt, nun war es auch in Dresden zu erleben. Der Kagel-Abend war noch von Udo Zimmermann, der das Festival der zeitgenössischen Musik in Dresden 22 Jahre äußerst verdienstvoll und erfolgreich leitete, konzipiert worden. Nach Kagels Tod wurde der Abend zur Hommage an den großen Komponisten.
Das Festival selbst heißt nun "TonLagen" und Intendant Dieter Jaenicke hat die Veränderungen fest im Blick – er freute sich in seiner Eröffnungsrede auf die zeitgenössische Musik, aber auch auf genresprengende Konzerte im Bereich Elektronik, Theater und performativer Kunst. Wo sich die "TonLagen" da erneuern werden, wird in der Festivalzeit zu überprüfen sein, denn Hellerau hat sich ja schon in den vergangen Jahren zur Wahrnehmung der Gegenwartskunst in all ihren Facetten deutlich positioniert. Dass mit dem Melt!-Klub am 10. Oktober auch etwas "für jugendliches Publikum" dabei sei, sei Jaenicke als Faux-Pas verziehen, denn künstlich gezogene Generationsgrenzen wären sicherlich Gift für die zeitgenössische Profilierung.
Weniger als das Würdenträger-Protokoll vermisste man angesichts der hochkarätigen Hommage an einen der spannendsten Komponisten der Gegenwart im Eröffnungskonzert allerdings die Freunde der zeitgenössischen Musik aus Nah und Fern. Im Jahr Eins nach Udo Zimmermann ist offenbar die Umkrempelung sowohl des äußerlichen Erscheinungsbildes als auch der programmatischen Profilierung auch mit einem Neustart in Richtung Publikum und Rezeption verbunden. Jaenicke formulierte die "TonLagen" denn auch als Reise, vermutlich wird es auch in mancher Hinsicht ein Abenteuer. Auf die Reise in Kagels Phantasiewelten begab sich dann das Ensemble MusikFabrik im Konzert. Bei aller Faszination für diese Musik ist der Abdruck ausschließlich von Einführungen des Komponisten im Programmheft recht kritisch zu betrachten, zumal es sich im Fall von Kagel schon fast um eine literarische Kunstform handelt.
Unter dem stets genauen, motivierenden Dirigat von Emilio Pomarico ging es zunächst recht lässig und swingend auf den "Stücken der Windrose" in einen eher virtuellen Osten, bevor "In der Matratzengruft" ein gewaltig poetisches Bild des Dichters Heinrich Heine am Ende seines Lebens zeichnete: Kagel über Heine, Heine in Kagel, Kagel an Heine: die Durchdringung von Wort und Ton, Geste und Instrument, Emotion und Form war meisterlich und erbauend. Der Tod selbst bildete den einzigen Schattenfaden dieses fast schon einer "Tondichtung" nahestehenden Zyklus‘. Martyn Hill (Tenor) sang den umfangreichen Part facettenreich und mit versierter Technik, aber eine größere Ausdrucksbreite wäre vorstellbar gewesen.
Roland Hermann (Bariton) oblag dann die Skizzierung des Weltgeschehens zum Zeitpunkt von Kagels Geburt, die dieser 1988 selbst in Töne und Aktionen umsetzte: da marschiert und raucht der Nationalsozialist, in Rom stürzt eine Decke in der Bibliothek ein und das Adagio ist der Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit gewidmet – Hermann sparte nicht mit offener Theatralik und sorgte dafür, dass Kagels feingründiger Humor auf niveauvolle Weise zu Tage trat. Am Ende: großes Glockengeläut. Kagel lebt in dieser Musik und wird uns auch weiterhin lebendig bleiben.
(Foto: PR)
Eine Textfassung des Artikels ist am 5. 10. in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.