Kopenhagen im November. Hier herrscht Herbstwetter, dunkel, nass, kalt und windig, jedes Klischee wird bedient. Man flüchtet ins Theater, ins alte Opernhaus. „Napoli“ wird hier gegeben, Premiere des Dauerbrenners beim Königlichen Balletts, seit der Uraufführung 1842 über 800 Mal gespielt auf diesen Brettern, die die Welt bedeuten. Das Haus ist ausverkauft, man will dabei sein, wenn der Ballettchef Nikolaj Hübbe gemeinsam mit Sorella Englund diesen romantischen getanzten Traum des Südens in das neapolitanische Ambiente der frühen 50ger Jahre verlegt. Für den zweiten Akt ist eine eigene Choreografie zu eigens komponierter Musik von Louise Alenius angekündigt. Die dänische Komponistin ist fast 170 Jahre jünger ist als ihre Kollegen Edvard Helsted, Holger Simon Pauli und Hans Christian Lumbye.
Englund und Hübbe haben selbst die Hauptpartien hier getanzt. Sie zeigt ein Foto im Foyer als Teresina 1979, er ist in ausgesprochen eleganter Sprunghaltung in einer Aufführung des Jahres 1990 zu sehen.
Dass dieses andernorts so gut wie gar nicht zu erlebende Ballett von August Bournonville, ausgenommen Aufführungen des dritten Aktes, hier besonders hohen Wert hat, vernimmt man mit den ersten Takten des Vorspiels. Graham Bond erweist sich am Pult des Königlichen Orchesters als versierter Ballettdirigent mit wacher Verbindung zur Bühne, zu den Bewegungen. Verzögerungen vermag er mitzufühlen um sofort darauf Akzente zu setzen und das Temperament zu beflügeln. Er scheut nicht es schmettern zu lassen, wenn nötig dem Sentiment, dem Klischee auch Raum zu geben, die Eleganz bleibt. Musik, die einem Zweck geschuldet ist, muss eben ganz und gar nicht wie öde Gebrauchsmusik klingen.
Und dann im Flug durch dichte Wolken im Zoom, ab in den Süden.
Überzeugende Naivität: Jette Buchwald, Gitte Lindstrom, Ulrik Birkkjaer, Eva Kloborg
„Napoli“ prangt in Filmtitellettern aus dem Himmel und schon ist der Blick frei auf die Piazza am Meer, zwischen Hotel Mediterràneo und dem Altar der Madonnen, direkt auf die Lichter am Ufer der Bucht und den Vesuv. Matrosen, Fischer, Händler, Kinder, der Priester, alle in der milden Abendstimmung des Bilderbuchsüdens der 50ger Jahre, gut getroffen in den gedeckten und gebrochenen Farben von Maja Ravn, im Lichtdesign Mikki Kuntus, von der Regie belebt mit liebevoll gezeichneten Menschen aller Altersgruppen, denen allesamt glaubwürdige Charakteristika eignen. So wird dieses erste Genrebild, das der Pantomime mehr Raum gibt als dem Tanz, hier nicht zur Falle, sondern hier entfaltet sich der Charme dieser Kunst, die nur bei höchstem Anspruch die überzeugende Naivität erlangen kann.
Das schöne Bild ist Trug, das Unwetter zieht auf, es grollt im Sound des Orchester von Rossinis Gnaden. Das junge Paar, der Fischer Gennaro und Teresina, einzige Tochter der Witwe Veronika, gerade verlobt schon wieder getrennt. Im Übermut aufs Meer, das Boot kentert, ihn spült die See an Land, sie bleibt verschollen. Immerhin konnten Ulrik Birkkjaer und Gitte Lindstrom im verliebten Duett schon etliches zeigen von ihrer Tanzkunst, gepaart mit Natürlichkeit des Ausdrucks, beäugt von Louise Midjord als charakterstarke Mutter.
Natürlichkeit des Ausdrucks: Gitte Lindstrom
Die Tänze des Festes, Ballabile mit sechs Damen und sechs Herren, die Schaustellerszene und der verrückte, schräge Travestie-Auftritt Paul-Erik Hesselkildes als Straßensängerin wecken Lust und Laune für den weiteren Verlauf des Abends. Dank wundertätiger Segnungen der zwischen Engel, Ordensfrau und Madonna changierenden Gudrun Bojesen stürzt sich der verzweifelte Gennaro nicht ins Messer sondern ins Meer, tief hinab, bei der blauen Grotte.
Wir tauchen mit. Tief geht es hinunter in einem faszinierenden Spiel aus Farben, Licht und Klängen. Jetzt im Filmsound von Louise Alenius, zunächst impressionistisches Flirren, geflüsterte Collagen ferner Stimmen, im Verlauf der Dramatik des zweiten Aktes wird die Musik rhythmischer, kantig, auch brutal, ehe sie am Ende aufsteigend überleitet in die Stimmung des Originals.
Tänzerisch gelingt hier eine starke Szene. Jean-Lucien Massot gibt den Meergeist Golfo, dessen Kraft die „abgetauchte“ Teresina fasziniert gegenüber steht. Willig taucht sie ein in die fremde Welt der Najaden. Erst die Wundermacht eines geweihten Amuletts und der Musik, dank derer der ihr nachgetauchte Gennaro ihre Erinnerung belebt und selbst den Zorn der Meerwesen besänftigt, lässt sie gemeinsam mit dem Geliebten auftauchen. Da sind drei starke Tanzpersönlichkeiten auf dem Grund des Meeres zusammengekommen und können in der Choreografie von Englund und Hübbe ihre klassischen Tugenden mit denen der Neoklassik und des zeitgemäßen Ausdrucksrepertoires verbinden.
Wo sonst so? Lindstrom und das corps de ballet
Am Ende des Abends wird man wissen, wie tief sich die beiden Künstler mit ihrer ausgezeichneten Kompanie hineinbegeben haben in den Geist Bornounvilles und dass gerade dieser phantastische Ausflug kraft der Entfernung in Musik und Bewegung die eigentliche Hommage an den Meister ist. Dessen Kunst, für die die Dänen so berühmt sind, kommt dann zur schönsten Geltung, im dritten Akt. Wunderbare Errettung der Liebenden, Versöhnung aller Streitenden. Kein Wunder möchte man meinen, im Land der Heiligen und Narren, der Musik, des guten Essens und Trinkens, und wie man in Kopenhagen erleben kann, des Tanzes. Der nimmt in den ausgelassenen Varianten der Tarantella, den atemberaubenden Allegro-Passagen der sprungseligen Bournonville-Technik für flinke Beine, knapp über dem Boden in Batterien, schneller als der Blick erlaubt, in der Virtuosität der Tänzer seinen atemberaubenden Lauf. Ein funkensprühendes Fest der Sinne, Irrsinn und Lebenswitz, Tanz für den Tanz und einhelliger Jubel für diese neapolitanische Verzauberung in Kopenhagen. Wo sonst so?
Am Ende der Premiere wird Ulrik Birkkjaer vom Solisten zum Solotänzer befördert. Einen Tag später, in der zweiten Vorstellung, schlägt die Stunde der Debütanten. Wieder Soli und Pas de six im dritten Akt frappierend, überhaupt die Stärke der Kompanie. Amy Watson gibt ihr bejubeltes Debüt als Teresina und Alexander Staeger aus dem Corps de ballet ist ein wunderbar jungenhafter Gennaro.
Fotos (3): Costin Radu