Als risse es ihre Körper auseinander, so bewegen sich die Tänzerinnen und Tänzer. Als würden sie geschlagen, gepeitscht, gejagt, getrieben, verfolgt, so werfen sie sich durch den weiten Raum der großen leeren Bühne des Hamburger Opernhauses. Kein Schutz. Nirgends. Als wollten sie der Gewalt widerstehen, verfallen sie immer wieder in geschmeidige, zuweilen zärtliche, Bewegungsabläufe, die wie Zitate einstiger Ordnungen und Konventionen wirken. Sequenzen der Erinnerung, jäh durchbrochen von denen der Gewalt und der Erniedrigung.
Das ist der Tanz auf des Messers Schneide. Auf die Spitze getrieben, in den Irrsinn der Drehung, in den Sprung, auf die Erde zurück geworfen. Dies alles, dieser ganze Wahnsinn aus Sehnsucht und Vermessenheit, aus Einsamkeit und Promiskuität, aus Traum und Erwachen, aus Leben und Tod, Gewalt und Zärtlichkeit, pocht, schlägt und hämmert zwischen den fiebernd schmerzenden Schläfen jener zerbrechlichen jungen Frau, die da zu Beginn und am Ende mutterseelennackt mit leicht angezogenen Beinen mit der erbärmlichen Habseligkeit ihres verschlissenen Koffers auf der Kante eines Anstaltsbettes im Irrenhaus sitzt. Endstation Sehnsucht für Blanche duBois in John Neumeiers Ballett nach „A Streetcar named Desire“ von Tennessee Williams aus dem Jahre 1947, das er 1983 für das Stuttgarter Ballett schuf, 1987 in Hamburg einstudierte und jetzt hier wieder aufgenommen hat.
Gewalt, Erniedrigung, kein Schutz, nirgends: Silvia Azzoni, Carsten Jung
Blanche ist geflüchtet vor ihrer traurigen, schmutzigen Vergangenheit, sie ist geflüchtet vor sich selbst in die Arme so schöner wie brutaler Kerle, in den Alkohol und immer wieder in die Illusion einer anderen, verfallenen Welt. Blanche hat immer zugesehen. Sie ist die Zuschauerin bei ihrer eigenen Hochzeit. Die Zuneigung ihres Mannes gilt einem anderen Mann. Sie ist die Zuseherin ihrer eigenen Liebe, wenn der inzwischen verstorbene, geliebte Mann ihr in der Gestalt anderer Männer erscheint. In Blanches verrücktem Leben sind die Lebenden tot und die Toten lebendig. Blanche auf der Flucht zu ihrer Schwester Stella, nach New Orleans, dahin wo die Straßenbahnen Namen statt Nummern tragen, dahin wo die Schienen des Triebwagens „Desire“ im Nichts enden, Endstation Sehnsucht, Endstation Begierde. Die Flucht erweist sich als Falle. Im Leben der Schwester mit ihrem Mann, dem polnischen Einwanderer Stanley Kowalski, bleibt Blanche im Hinblick auf sie Zuschauerin, für ihn, der sie brutal vergewaltigt, Objekt der Begierde, eine unglückliche Episode für dessen Boxerkollegen Mitch.
Dem Drama des Realitätsverlustes und des Scheitens an der Übergröße nicht einzulösenden Sehnsucht hat John Neumeier vor einem Viertel Jahrhudert die poetische Kraft des Tanzes gegeben, deren Lebendigkeit ungebrochen ist, deren wortloser Ausdruck noch immer von erschütternder Wirkung ist. Die Hamburger Wiederaufnahme macht deutlich, dass wir es hier mit einem der bedeutenden großen Handlungsballette des letzten Jahrhunderts zu tun haben. Das Werk mag keines für Neumeier-Einsteiger sein, aber es ist eines, das einen Höhepunkt in der choreografischen Arbeit dieses Mannes bedeutet, der den Tanz in den letzten 40 Jahren prägte wie kein anderer. Ein Beispiel dafür, welche Erschütterung von jener Kunst ausgehen kann, die „Gottes zweibeiniges Gesellenstück“, in der Kraft und in der Zerbrechlichkeit seiner Kreatürlichkeit zu würdigen weiß.
Grandios ist die Auswahl der Musik. Im ersten Teil Sergej Prokofjews „Visions fugitves“, in originalen Passagen von Richard Hoynes am Klavier gespielt und in einer Zuspielung die Fassung für Kammerorchester von Rudolf Barshai. Das Erlebnis der besonderen Art ist die Musik des zweiten Teiles, Alfred Schnittkes erste Sinfonie, im Mitschnitt der Uraufführung, in der geschlossenen Stadt Gorki, unter der Leitung von Gennadi Roschdestwenski. Die Ruhelosigkeit dieser Musik eines Umgetriebenen, ihre Fetzen von Zitaten, jazzig, vulgär, brutal und voller unbändiger Sehnsucht, so unbestimmt wie zärtlich, entsprechen dem Seelenzustand von Neumeiers Menschen an ihren Endstationen.
Endstation Sehnsucht, Endstation Begierde
Die neue Hamburger Blanche duBois ist Silvia Azzoni. Eine Tänzerin von starkem Ausdruck, bei frappierendem Eindruck von Zerbrechlichkeit, eine Unberührbare, deren Passagen der Einsamkeit zutiefst berühren. Ihre lebenszugewandte Schwester ist Carolina Agüero, Carsten Jung tanzt den Stanley Kowalski. Ein Boxertanz, der sich in schmiegsame Drehung verwandelt, eine Diskrepanz aus Zutrauen und Ablehnung der eigenen Körperlichkeit, die sich entlädt in selbstzerstörerischer Brutalität und unterwerfender Sexualität. Lloyd Riggins als introvertierter Boxer Mitch gibt eine Meisterleistung an exakter Charakterisierung dieses introvertierten Mannes, dem die Fäuste eher gehorchen als das Herz. Als Blanches Ehemann, Zeitungsjunge und Arzt, Peter Dingle, dessen Pas de deux mit Dario Franconi zu den großen Momenten des Abends gehört. Mag sein, dass solche Szenen vor 25 Jahren von ganz anderer Provokation waren, jetzt, frei davon, vermögen sie erst recht von den vielen Sehnsuchtsutopien dieses Stück zu erzählen.
Fotos (3): Holger Badekow