Zunächst die Ungewissheiten. Den Anlass für dieses Orpheus-Ballett gab eine Einladung der Salzburger Festspiele für John Neumeier und das Hamburg Ballett, diese Kreation dort im kommenden Jahr zu präsentieren. In Salzburg hat sich der Wind gedreht, die Einladung wurde zurück genommen. Die Proben in Hamburg aber nahmen einen glücklichen Verlauf. Und dann, 14 Tage vor der Premiere die Nachricht, dass Roberto Bolle, Étoile der Mailänder Scala, derzeit einer der weltweit gefragtesten Tänzer überhaupt, dem Neumeier sein Opus gewissermaßen auf den Leib choreografierte, von dessen besonderer Ausstrahlung er sich inspirieren ließ, aufgrund einer schweren Verletzung aussteigen musste.
Otto Bubenícek als Orpheus und Hélène Bouchet als Eurydike, Fotos (3): Holger Badekow
Otto Bubenícek, ohnehin später für die Titelrolle des neuen Balletts bestimmt, steigt ein. Und mit der neuesten Hamburger Kreation steigt zur Uraufführung ein neuer Orpheus auf. Was der Tänzer geleistet hat ist schier unglaublich, er hat die Wahnsinnspartie, in der er so gut wie immer präsent ist in einem Stück, das länger als zwei Stunden dauert, dessen technische Ansprüche enorm sind, in eben jenen 14 Tagen einstudiert. Und eben weit mehr noch, er hat sie sich zu Eigen gemacht. Seine Leistung ist einer der Superlative, an denen diese denkwürdige Hamburger Premiere nicht arm ist. Da ist die Musik. So überzeugend wie genial klingt es, den Mythos vom Sänger, dessen Musik den Tod zu bezwingen vermag, Flüsse zum Weinen bringt, dass sie über die Ufer treten, in die Spannung der Korrespondenzen unterschiedlichen Kompositionen zu stellen.
Igor Strawinskys Ballettkompositionen „Orpheus“ und „Apollon Musagete“ werden in eine spirituelle Beziehung zu Heinrich Ignatz Franz Bibers Passacaglia und dem Lamento aus seinen „Rosenkranz-Sonaten“ gesetzt. Die Klänge der Gegenwart liefern elektroakustische Sound- und Textcollagen von Peter Blegvad und Andy Patridge aus „Orpheus the Lowdown“ u.a. mit Texten aus Rilkes Orpheus-Dichtungen. Unter der Leitung von Simon Hewett musizieren die Hamburger Philharmoniker höchst sensibel. Der Spezialist für barockes Violinspiel Rüdiger Lotter weiß der musikalischen Metaphysik eben genau jene singenden Töne zu geben, die dem Musizieren des Orpheus eigen sind.
Ein weiterer Gewinn dieses Abends ist die Erzählweise des Mythos als gegenwärtiges Künstlerschicksal, wobei letztlich die Zeiten und Spielweisen einander durchdringen und neben ritualisierten Symbolhaltungen die krasse Realität eines Autounfalls steht, bei dem die getötete Eurydike in das dunkle Nichts einer leeren Bühne geschleudert wird.
Die Musik des Orpheus, hier wie in Offenbachs Persiflage, ein Virtuose der Violine, vermag zum einen Tänzerinnen und Tänzer aus synchroner Geometrie in biegsam wogende Wesen und Gruppen zu verwandeln, Bäume und Wasser, zum anderen das Konzertpublikum der Gegenwart zu erfassen oder auch Bacchantinnen von heute, gestylte und gedrillte Frauen vom erotischen Service, zu bewegen. Vor allem führt diese Musik in die Unterwelt, die ein Schatten des Lebens ist, was Ferdinand Wögerbauers Bühnenbild geschickt vermittelt. Die Begegnung von Orpheus und Eurydike, ein glücklicher Zufall, sie währt nur einen Tag, durch einen tödlichen Zufall wird sie beendet.
Es sind die Unbedingtheit der zufälligen Begegnung zweier Menschen und die Endgültigkeit des Verlustes, die die Pole eines Spannungsfeldes bilden, in dem John Neumeier für seine Protagonisten den Reichtum seiner besonderen Bewegungssprache entfaltet. Otto Bubenícek als Orpheus und Hèléne Bouchet haben in ihrer tänzerischen und technischen Brillanz eben jenen Mehrwert zu vermitteln, der aus der Kraft ihrer künstlerischen Empfindsamkeit und Verletzlichkeit erwächst. Gerade im großen Pas de deux ihres Abschieds vermitteln sie die Schönheit des Flüchtigen und das ist ganz feinsinnig und zärtlich geatmeter Tanz. Fernab aller Künstlichkeit entstehen so die Momente großer Kunst.
Otto Bubnícek und Hélène Bouchet
Zur Gruppe der wenigen Solisten dieses erzählenden Balletts gehören weitere ausgezeichnete Tänzer und Darsteller. Edvin Revazov als Apollo und Anna Laudere als Kalliope sind die Eltern des Orpheus, Yohan Stegli ist Hermes, der Seelengeleiter. Ein exzellentes Corps de ballet als Konzertbesucher, Prostituierte, Bäume, Flüsse und Schattenwesen.
Und natürlich ist es ein Superlativ gegenwärtiger Ballettarbeit, dass John Neumeier dieses Ensemble in über 30 Jahren geformt hat. Er konnte das Publikum mitnehmen, Vertrauen schaffen und somit die Grandlage, einen solchen Abend annehmen zu können, auch wenn er sich jeder Art von Gefälligkeit oder modischer Kurzschlüssigkeit entzieht.
Eine Textfassung des Artikels ist am 11.Dezember in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.