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Giselle, Giselle, Giselle – von der Unerschöpflichkeit dieses Klassikers zeugen zwei DVDs mit gänzlich unterschiedlichen Choreografien

Jede Kompanie, die auf sich hält und es sich künstlerisch leisten kann, tanzt „Giselle“, mit der Musik von Adolphe Adam, jenes klassische Ballett, das als Archetypus gilt für eine wesentliche Variante des tiefromantischen Motivs von der Liebe, die den Tod überwindet. Noch immer überwiegen jene Inszenierungen, die sich so weit als möglich an die Überlieferungen der Originale halten, die zurück gehen auf die Pariser Uraufführung 1841, in der Choreografie von Jean Coralli und Jules Perrot, auf das Libretto von Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Théophile Gautier, dem Motive Heinrich Heines zugrunde liegen.

Zur Uraufführung tanzte die damalige italienische Starballerina Carlotta Grisi die weibliche und der französische Tänzer Lucien Petipa, die männliche Hauptpartie. Der Bruder des letzteren, Marius, ebenfalls ein begnadeter Tänzer, wird später von St. Petersburg aus, wo er zunächst als Tänzer, ab 1862 als Maitre des ballet 48 Jahre lang die Geschicke des berühmten Balletts des Mariinsky-Theaters zum Weltruhm führen wird, „Giselle“ dort einstudieren. Er wird so weit als möglich das Original retten und eine Grandlage schaffen für weitere Einstudierungen dieses Meisterwerkes bis auf den heutigen Tag.

Als eine Einstudierung, die höchsten Maßstäben jener mit Petipa begründeten Tradition verpflichtet ist, darf man die Aufführung des Balletts der Mailänder Scala ansehen. Hier haben gerade in diesem Werk so berühmte Tänzerinnen des 19. Jahrhunderts wie Fanny Cerrito oder Fanny Elßler das unglückliche Bauernmädchen getanzt, dessen Liebe über den Tod hinaus den untreuen Herzog Albrecht erlöst. Später waren es Yvette Chauviré, von der die bis heute gehütete Inszenierung stammt, in der auch Legenden wie Margot Fonteyn oder Carla Fracci tanzten. (Bei der Deutschen Grammophon ist 2005 eine Filmversion des American Ballet von 1975 mit der Fracci als Giselle und Eric Bruhn als Albrecht auf DVD erschienen.)

Die Mailänder „Giselle“ wurde inzwischen von Florence Clerc, die man auch als Sachwalterin der Arbeiten Rudolf Nurejews schätzt, wieder einstudiert. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, man kann es sich ansehen, auf einer DVD, live aus dem berühmten Opernhaus, vom April 2005. Mit der Tänzerin der Giselle kommt beste russische Tradition ins Geschehen, denn als Star des Moskauer Bolschoi-Balletts brilliert und schwebt Svetlana Zakharova in exzellenter St. Petersburger Tradition über die Bühne, deren Ausstattung auf Aleksandr Benois zurück geht. Als Albrecht ist Roberto Bolle zu erleben, gegenwärtiger Star der weltweiten Ballettszene, jugendlich und kraftvoll, elegant in den Linien, ein Ballerino der Extraklasse.

Roberto Bolle tanzt aber auch den Albrecht in einer gänzlich anderen Version der „Giselle“. Im Februar und im März 2010 ist er als Albrecht in der Choreografie von Mats Ek in Neapel mit dem Ballett des Teatro di San Carlo zu erleben. Eks Sicht auf das Werk ist alles andere als romantisch oder klassisch im traditionellen Sinne, auch wenn seine Arbeit von 1982 für das schwedische Cullberg Ballet inzwischen zu den Klassikern der Moderne gezählt werden muss. Bei Arthaus gibt es eine DVD mit der Fernsehfassung von 1987, mit der originalen Musik Adolphe Adams, gespielt vom Orchester der Oper Monte Carlo unter der Leitung von Richard Bonynge.

Man ist verblüfft ob der ungebrochenen Präsenz dieser Adaption des Stoffes, die keine vordergründige Aktualisierung sondern eine eigenständige Deutung dieser Geschichte einer tragischen Liebe ist. Im Original das herzkranke junge Mädchen vom Land, bei Ek die dörfliche Närrin, akzeptiert und geschützt in der durch den Rhythmus aus Arbeit und Natur gleichförmig gestalteten archaischen Gesellschaft und der eher brüderlichen, sorgenden und letztlich pragmatischen Zuneigung Hilarions. Wie üppig aber Sehnsucht, Leidenschaften und Lebenslust sich Bahn brechen, das zeigt der Tanz in dem surrealen Bühnenbild von Marie-Louise de Geer Bergenstrahle. Eine Landschaft, deren Hügel am Horizont üppige Brüste sind, umwuchert von hoch schießendem Grün. Der Tanz sucht bei Giselle hier nicht seinen Höhenflug im Spitzentanz, nein hier sind es eigenwillige, eckige Haltungen der Füße, wegfliegende Arme, die wieder eingefangen werden müssen, Ein Körper, den es gewissermaßen aus seiner Form reißt. Ein Mensch ohne Arg und Fehl und die Begegnung mit dem Menschen aus der anderen Welt, hier kein Adliger, ein Städter, der ländliche Zerstreuung sucht, wird für Giselle, der Ironie und Spott fremd sind, ein Anlass zur Grenzüberschreitung in die totale Schutzlosigkeit.

Eks Giselle treibt der Wahnsinn nicht in den Tod, die Gesellschaft schließt sie weg.
Das Dokument zeigt zudem das Cullberg Ballet in seiner Glanzzeit. Wir erleben mit Ana Laguna in der Titelrolle, Luc Bouy als Albrecht und Yvan Auzuley als Hilarion die beindruckenden Leistungen der Wegbereiter einer modernen Tanzkunst, deren Maßstäbe – wenn auch in anderer Weise – von der Gültigkeit eines Petipa sein dürften.                           
 

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