Zunächst war das Bauwerk. Notre Dame de Paris, die berühmte Frauenkirche von Paris, ein Meisterwerk des Spätmittelalters. Der Glöckner von Notre Dame, jener unglückliche und missgestaltete stumme Quasimodo, im Film (1956) von Anthony Quinn dargestellt, inzwischen auch eine Figur der Walt Disney Company, Protagonist zweier Musicals und eine Partie in zwei Opern. Louise Bertinis Vertonung von 1836, nach der weiblichen Hauptpartie „La Esmeralda“ genannt, ist völlig vergessen. Franz Schmidts pseudomittelalterliches Werk „Notre Dame“, 1914 in Wien uraufgeführt, ist bis auf das populäre Zwischenspiel auch in den Archiven verschwunden. An der Semperoper soll mit Fabio Luisi am Pult der Versuch unternommen werden das Stück neu zu beleben.
Am Beginn des Siegeszuges eines solchen Sujets steht ein historischer Roman von Victor Hugo (1802-1885) aus dem Jahre 1831. Im Mittelpunkt des Romans steht die Kathedrale, deren Beschreibungen zu den eindrücklichen Kapiteln gehören. In und vor diesem Bauwerk siedelt Hugo seine Handlungen um den Glöckner, die schöne Zigeunerin Esmeralda, ihren Geliebten, die verführerische Lichtgestalt, den Hauptmann Phoebus, und den bigotten Achidiakonus, vor einem Panorama aus vielen Nebenzweigen und dem Zusammentreffen aller Bevölkerungsgruppen der mittelalterlichen Stadt, an.
Dass es ein abendfüllendes Ballett von Roland Petit gibt, dürfte hierzulande so bekannt nicht sein, ist aber nicht uninteressant im Zusammenhang mit der geplanten Aufführung der Oper von Franz Schmidt. Eher ist vielleicht das heute noch vor allem in Russland aufgeführte Ballett „Esmeralda“ mit der Musik des Ballettmusikfabrikanten Cesare Pui (1805-1870) bekannt.
Petits Ballett wurde 1996 durch das Corps de Ballet de l´Opéra national de Paris im Neubau an der Bastille uraufgeführt, und ein Mitschnitt ist jetzt in bester Qualität als DVD bei Arthaus erschienen. Die Musik dazu für großes Orchester mit einem Chor für stimmungsvolle Vokalisen hat Marice Jarre komponiert und für die Bühne von René Allio vor der eindrucksvoll symbolisierten Portalfront von Notre Dame hat kein Geringerer als Yves Saint Laurent die Kostüme entworfen. Seine stilisierte Mittelalterpracht spart nicht an Farben und Zitaten, besticht vor allem in der Reduktion und ihrer formgewordenen Korrespondenz zum Tanz, denn es ist die persönliche Stärke Roland Petits seine Choreografien immer wieder zu kunstvollen Körperbildern werden zu lassen.
Wie eigentlich immer, seit der französische Choreograf 1949 mit seiner Carmen-Choreografie, kreiert für seine Frau, die Tänzerin Zizi Jeanmaire und später mit ihr verfilmt, einen Welterfolg errang, vermag er es auch hier klassische Elemente mit denen der Unterhaltungskunst des Tanzes zu verbinden. Die Nähe zum Musical ist nicht zu übersehen. Das bekommt dem groß dimensionierten Handlungsballett mit Massenszenen, einem Narrenfest vor der Kirche, dem prächtigen Gebetsritual, Szenen in der Taverne oder bei der Hinrichtung der Esmeralda bestens. Allein die Varianten, die Petit für die Haltungen und Bewegungen der Hände seiner Protagonisten findet, lohnen das genaue Hinsehen.
Aus klassische und neoklassischen Traditionen entwickelt der Altmeister Soli, Duette und vor allem seinen großartigen Pas de trois in dem Laurent Hilaire in der Rolle des Frollo, der exzellente Tänzer als lüsterner Beter, verklemmter Voyeur und heimtückischer Mörder, sich zwischen die Liebenden Esmeralda (Isabelle Guérin) und Phoebus (Manuel Legris) tanzt. Ein weiterer Höhepunkt ist ein Pas de deux für Quasimodo und Esmeralda, dem sich die Guérin in lyrischer Schönheit hingibt und in dem Nicolas le Riche das weite Spektrum seiner Kunst, die die körperliche Unzulänglichkeit der Rolle für Momente überwindet, entfaltet.
Natürlich gehört jene Szene zu den großen Momenten des modernen Balletts, wenn der stumme Glöckner zu Beginn des zweiten Teils an der mächtigen Glocke hängt, sie zum Schwingen und Klingen bringt, aus der Umklammerung eine Liebkosung und aus dem Klang des Metalls der Gesang des Stummen wird.
Roland Petit, inzwischen 86 Jahre alt und ungebrochen kreativ, hatte nie Angst vor Festlegungen und wechselte erfolgreich zwischen den Genres, Ballett, Film, Musical, Revue. Zuletzt brachte er 2009 an der Wiener Staatsoper eine Ballettfassung der Operette „Die Fledermaus“ heraus. Seine Tanzfassung „Notre-Dame de Paris“ von 1996 ist nach wie vor sehenswert. Das liegt natürlich auch an den Pariser Etoiles wie Isabelle Guérin, Nicolas Le Riche, Laurent Hilaire und Manuel Legris. Letzter, gemeinsam mit Isabelle Guérin, tanzte am 17. Juli 1999 in einer Ballettgala in der Semperoper, am gleichen Abend brillierte hier Elisabeth Platel, ebenfalls Etoile der Pariser Oper und wie Guérin Protagonistin bei Nurejew.
Und wenn schon Nostalgie, dann richtig. Roberto Bolle, derzeit die Nummer Eins der Ballerinos, tanzte ein Jahr zuvor in einer Gala in Dresden mit Margaret Illmann den Pas de deux aus dem zweiten Akt „Schwanensee“, am gleichen Abend tobte das Publikum als Kevin Haigen und Ivan Liska Neumeiers „Opus 100 for Maurice“ zur Musik von Simon & Garfunkel präsentierten, und es herrschte gespannte Stille, als eine Legende des Tanzes, Carla Fracci, mit Rex Harrington als Tatiana und Onegin in John Crancos Meisterchoreografie über die Bühne der Semperoper schwebten.