Vor zwanzig Jahren fiel die Mauer und vor zwanzig Jahren müsste der Fahrstuhl im Hotel Kötzschenbroda bei Dresden seinen Geist aufgegeben haben. Zwanzig Jahre später hat sich da nicht viel verändert und die Lobby des Hotels ist reif fürs Staatstheater als eine Art von Tag- und Nachtasyl für Übriggebliebene, Dazugekommene und Durchreisende. Das sind neun Menschen, die alle irgendwie etwas verloren haben. In dieser schäbig gewordenen Holzverkleidung einer Hotellobby von Philipp Nicolai im gesamtdeutschen Schick der sechziger Jahre samt Accessoires der Folgezeit sind sie darin vereint, dass sie nicht darauf verzichten wollen, zu träumen. Und weil wir im uns im brandneuen Liederabend von Franz Wittenbrink befinden, singen sie davon, so schön sie können und das ist entwaffnend grandios. Schlager, Schnulzen, Rock und Pop, es wird mal jazzig und auch ein wenig klassisch.
Und wieder funktioniert die Methode Wittenbrink, uns mit dem, was wir kennen zu überraschen, uns ganz schnell zu Lobbyisten dieser Lobbyisten in der Lobby des Hotels Kötzschenbroda zu machen. Die Geschichte um die standhafte Hotelbesitzerin in dritter Generation samt Tochter und Mutter, die nach überstandenen Enteignungsattacken zu Zeiten der DDR sich jetzt denen eines Insolvenzweltmeisters aus dem Westen zu erwehren hat, ist locker gestrickt und flirtet kräftig mit ganz schwachen Klischees. Aber, wenn sich so starke Typen wie Helga Werner, Mila Dargies und Ursula Geyer-Hopfe mit ganzer Lust und voller Stimme für den schönen Spaß ins Zeug werfen, dann haben sie das Publikum auf ihrer Seite. Hannes Hellmann, der sich nach etlichen Pleiten dem Aufbau Ost verschrieben hat und die Abrissbirne schon bestellt hat, erringt im Zuge des friedlichen Zusammenwachsens an der Seite seiner Tatiana, der Susanne Jansen das Klischee einer schrillen Russin verpasst, ein ebenso hohes Maß an Sympathie. Und wer könnte dem saufenden Handlungsreisenden, wie ihn Benjamin Höppner spielt, nicht etliches nachsehen, wenn er so weit im Delirium steckt, dass er Kötzschenbroda in Koloraturen besingt. Im Gesang überwindet Eike Weinrich als schüchterner Page die Widrigkeiten seines hammerharten Jobs in der desolaten Bude. Im Zimmer elf wohnt Hans Magnus, Matthias Luckey ist der schwermütige langhaarige junge Mann, der vom Tod träumt, dessen Arten besingt, dies in mehreren Stimmlagen und unter Verwendung etlicher Gegenstände der Hoteleinrichtung.
Und dann ist da noch Lutz-Uwe Kleinert, ein windiger Typ, ein Mann mit Kontakten, immer schon. Ahmand Mesgarha macht daraus ein Kabinettstück verlogener Rührseligkeit. Der verblichene Anzug schlottert am schmalen Leib. Eine schüttere Blondhaarfrisur zottelt unterm Lederhütchen der einstigen Zuträgerzunft. Mitleidheischend begibt er sich mit Schubert auf einsame Winterreise. Der Mann ist in allen Tonlagen zu Hause, erscheint sogar als weißer Geist.
Alle Protagonisten haben ihre großen Momente, ihre Musik, ihren Stil, ihren Traum. Wenn sich etwa Helga Werner die Autorität der Ärzte nimmt und ihre Tochter zur Schnecke singt und Mila Dargies zusammen mit Susanne Jansen rockt dass die Wände wackeln. Ursula Geyer-Hopfe, die Alterspräsidentin des Staatstheaters, verheddert sich in den politischen Erinnerungen, Eike Weinreich weiß singend Bescheid, „This is a Man´s World“. Der sterbenssüchtige Matthias Luckey träumt im Zimmer elf von „Sex im Hotel“ und der mächtige Bär als Gast aus dem Hotel New Hampshire verschwindet ausgerechnet dort. Benjamin Höppner kennt sich bei Tom Waits aus und kann sogar einen „Möbel-Hübner-Marsch“ singen und Hannes Hellmann hat den Schmelz in der Stimme um Frank Sinatras „Red Roses for a Blue Lady“ an die Frau und an den Mann zu bringen.
Dazu eine ausgezeichnete Band unter Franz Wittenbrinks Leitung mit Benjamin Rietz, Mark Dennewitz, Tom Götze, Christoph Hermann und Heiko Jung, die stilsicher und lustvoll begleitet, auch etliche eigene Akzente setzt.
Da ist zum Jahreswechsel dem Staatschauspiel ein wunderbar unterhaltender Abend zeitgemäßen Musiktheaters gelungen, absurd und fragil, banal und ohne Scheu vor dem Kalauer und der Klamotte. Viel Spaß am schrillen Übermut und der rasche Stimmungswechsel in die Melancholie der Träume vom Fernweh und den fremden Paradiesen um dann doch ganz gerne hier zu bleiben bis die Abrissbirne wirklich kommt.
Foto: HL Böhme
Eine Textfassung des Artikels ist am 2. Januar 2010 in den Dresdner Neusten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.