Keine Frage, Emmerich Kálmáns Operetten-Klassiker „Gräfin Mariza“ ist ein Welterfolg. Vier Mal verfilmt, mit 316 Aufführungen bereits 1926 am Broadway erfolgreich und bis heute eine der meistgespielten Operetten überhaupt. Schon die Wiener Kritiker der Uraufführung hatten dieses Potential erkannt. So kennt jeder Operettenfreund die Geschichte um die ebenso begehrte wie unnahbare Gräfin Mariza, den inkognito als Gutsverwalter Török arbeitenden Grafen Tassilo, den Baron Kolomán Zsupán aus Varazdin, wodie Rosen blühen, das ungarische Zigeunerkolorit, Kálmáns molldurchtränkte Gefühlsrhythmik und seine Ohrwurmmusik zwischen Csárdás, Shimmy und Walzerklängen. Man wird mit Fug und Recht sagen können, dass „Gräfin Mariza“ gemeinsam mit Kálmáns „Csárdásfürstin“ von 1915, an deren Atmosphäre, Handlungsmotive und Musiksprache die „Gräfin“ bewusst anknüpft, zum Modell für die Zigeuneroperetten der sogenannten Silbernen Ära schlechthin geworden ist.
Grund genug, dies über 85 Jahre nach der Uraufführung an der Staatsoperette Dresden ebenso augenzwinkernd wie liebevoll zu hinterfragen. Denn: so richtig will die alte Geschichte vom Ehrgefühl des verarmten Adeligen Tassilo, vom gedemütigten Csárdáskavalier nicht in unsere Zeit passen. Einen existentiellen Begriff der Ehre kennen wir heute vor allem aus der Literatur und Kunst der k.u.k-Monarchie, aus den Werken Arthur Schnitzlers etwa und aus unzähligen Duell-Szenen in Literatur und Film, aus den Milieus des Adels und des Militärs. Aber: heute erscheint uns dieser Ehrenkodex unmodern, hat so in unserer Wirklichkeit keinen Platz mehr. Oder?
Axel Köhler, der international gefeierte Countertenor, gefragte Regisseur und seit August 2009 Operndirektor der Oper Halle, hat für seine zweite Operetten-Inszenierung genau hier angesetzt. Nach Inszenierungen von Händel und Monteverdi in Dresden und einer ironisch- bunt verspielten Lesart von Mozarts „Zauberflöte“ an der Staatsoperette, ist Kálmáns „Gräfin Mariza“ Köhlers vierte Regiearbeit für Dresden. Die Operette, so bekennt Axel Köhler, reize ihn schon lange, schon seit jenen Jahren als er noch im Ensemble der Oper Halle selbst in Operetten sang. Wie in seinen anderen Arbeiten will sich Axel Köhler auch und gerade bei der Operette nicht bloß mit dem Ewiggleichen einer scheinbar festgeschriebenen Aufführungstradition begnügen. Schon Kálmáns „Mariza“ war trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) ihrer träumerischen Modellhaftigkeit, in der meist besungen wird, was man nicht (mehr) hat, ein Abgesang auf die 1924 real nicht mehr existierende k.u.k.-Monarchie und ihrem vergangenen Lebensgefühl. Dies gilt es heute, 2010, zu kommentieren und zu übersetzen.
Ingeborg Schöpf als Gräfin
Um das, was man heute allzu leicht als schwermütige Nostalgie und leicht verkitschtes Sentiment des Originals verstehen könnte in ein neues, zeitgemäßes Licht zu rücken, hat Axel Köhler gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Hartmut Schörghofer und der Kostümbildnerin Katharina Weißenborn den äußeren Rahmen behutsam modifiziert – ohne das Stück dabei zu verletzen oder gar zu verraten. Die Ernsthaftigkeit der Figuren, die in ihren Motivationen verstehbar bleiben müssen, steht dabei im Vordergrund. Die neu geschaffene Grundsituation, die sich an unserer heutigen Erfahrungswelt orientiert, kreiert eine bekannte Businesswelt aus legalen und illegalen Geschäften, die ihren eigenen Ehrenkodex hat. Rückgekoppelt ist diese Grundsituation – ganz in der Tradition des Genres – an Handlungsmuster aus der Tagesaktualität und an Traditionen künstlerischer Verarbeitungen. Nicht zuletzt weißt in der „Mariza“ das historische Thema von Insolvenz, Bankenkrise und dem Ende einer Gesellschaftsepoche unübersehbare Ähnlichkeiten mit der heute global ausgerufenen ‚großen Krise’ auf, bis hin zum Geschäftsgebaren auf Ehre und Gewissen. Auf Leben und Tod. Ironie nicht ausgeschlossen.
Gräfin Mariza
Operette in 3 Akten von Julius Brammer und Alfred Grünwald
Musik von Emmerich Kálmán
Premiere: 22.1.2010, 23.1.2010
Musikalische Leitung: Christian Garbosnik
Regie: Axel Köhler
Fotos: Kai-Uwe Schulte-Bunert