Der Kollege Brendel hatte diesen eisigen Blick, der dem gerade explosiv Abhustenden im Parkett blitzartig mitteilte: noch ein winziger Krächzer von dir, Junge, und ich betrete diese Stadt, diese Bühne nie wieder. Keith Jarrett ist inzwischen dafür bekannt, sein Publikum bereits vor Beginn des Konzerts vor Lautäußerungen jeder Art strengstens zu warnen. Holt dann doch jemand zu laut Luft, verlässt der Maestro sofort die Bühne. Recht hat er. (Hier ein Interview darüber mit ihm, geführt von dem vor einem Jahr verstorbenen Konrad Heidkamp.)
Barenboim war an diesem Abend selbst etwas verhustet. Glücklicherweise nahm nach seiner verbalen Intervention wenigstens das allfällige Fotografien mit dem Mobiltelefon etwas ab ("offizielles" Foto: M. Creutziger)
Mithin muss an dieser Stelle anlässlich des Konzertes von Daniel Barenboim in der Semperoper – neben der eigentlichen Rezension von Alexander Keuk – einmal unmissverständlich ausgesprochen werden: das künstlerisch nicht erregbare, allenfalls bakteriell infizierte Parkettpublikum der Semperoper-Sonderkonzerte hat sich in den letzten Jahren in eine Pest verwandelt. Mag es inzwischen mehrheitlich touristischen Ursprungs sein (wie Thomas Rosenlöcher einst in der ZEIT vermutete) oder nicht; ein ungetrübter Konzert- oder Operngenuss ist mittlerweile kaum noch möglich. Das fängt an der Kasse an, wo wir, auf Aushändigung der Karten wartend, von einer verkniffenen Dame sehr offenbar auswärtigen Ursprungs angebellt werden: "Kaufen Sie nun oder stehen Sie hier nur dumm in der Gegend herum? In diesem Fall gehen Sie mir aus dem Weg!". Danke – und auch Ihnen noch ein angenehmes Konzert wünschen wir gestern gehabt zu haben, Madame.
Es gibt nun Kritikerkollegen, die unnötig auffällig gewordenen Sitznachbarn giftig anzischen, sich in ihrer Wut gar zu lautstarken verbalen Attacken hinreißen lassen. Ich leide eher still vor mich hin, wenn das inzwischen obligate Mobiltelefon aus der Königsloge seinen "Nokia tune" düdelt (2009 durften wir übrigens bereits den 100. Todestag des Komponisten, Francisco Tárrega, feiern). Bei dem hier rezensierten Barenboim-Konzert war es ein auf Höchstlautstärke eingestelltes SONY ERICSON Modell, das das typische "Eiswürfelpurzeln" über eine leise Passage der dritten Chopin-Sonate absonderte.
Außermusikalisch war der erste Teil des Klavierabends eine Qual. Zu notieren waren die typischen Klettverschlussgeräusche, die entstehen, wenn wieder jemand versuchte, heimlich ein Foto vom Solisten zu schießen und dafür umständlich seine Kamera auspackte: das schnelle "Ratsch" und das laaangsame "ts-st-ts-st-ts-st-ts-rrp" hielten sich mengenmäßig die Waage. Weiterhin das Knistern der Hustenbonbons, das ennervierende Schütteln größerer Mengen von Tictac oder ähnlichem.
Über diejenigen Zuhörer, die trotz der Bitte im Programmheft munter Werkgruppen zerklatschen, sollte man sich gar nicht ärgern; man würde alsbald keine Freude mehr an irgendeinem Konzert haben. Die Frage, ob man diesen Applaus niederzischeln soll oder nicht, kann hier nicht endgültig beantwortet werden; in jedem Falle wäre es wunderbar, wenn sich Konzertgänger, die seltener als einmal im Monat Konzerte besuchen, eine Grundregel zu eigen machten: Klatsche los, wenn mehr als die Hälfte des Publikums bereits munter applaudiert. Es wird dir als die noble Zurückhaltung des Kenners ausgelegt werden und verhindert drohende präejakulative Peinlichkeiten.
Einzig über die allfälligen lautstarken Hustenattacken konnte Barenboim diesmal nicht streng richten; war der Pianist doch offenkundig selbst stark erkältet und hustete selbst während des Spiels. Aber auch hier gilt: der Solist selbst ist der einzige, dessen Husterei einigermaßen entschuldbar ist; versucht er doch, Totalabsagen zu vermeiden, um von weither Angereiste nicht zu enttäuschen. Alle anderen Erkälteten sollten lieber zu Hause bleiben und ihre Karte dem Babysitter oder Nachbarskind vermachen. So würde, ich bin mir sicher, die junge Generation ungleich effektiver an klassische Musik herangeführt als durch die vielen der angebotenen "Klassik for Kids"-Programme.
Was nun den musikalischen Teil des Abends betrifft, ärgere ich mich im Nachhinein über all jene Klatscher, Huster, Mobiltelefonvergesser des gestrigen Abends mehr, als ich mich über das wunderbare Klingen von der Bühne habe freuen können. Barenboim beherrscht seinen Chopin, liest ihn herrlich unsentimental, interpretiert ihn beethovenesk. Gern würde ich das Konzert noch einmal hören – mit wenigen Freunden allein im weiten Semperopernrund. So war es – leider – ein Ärgernis, trotz der herrlichen Musik, trotz des noch immer einzigartigen Pianisten, der viele jüngere, aus technischer Sicht perfektere, aber dennoch strunzlangweilige Allerweltsinterpreten noch immer in einen nachtschwarzen Schatten stellt.