Als John Coltrane vor einem halben Jahrhundert seinen Titel „Giant Steps“ und das gleichnamige Album herausbrachte, bewegte sich David Murray noch in den Kinderschuhen. Doch schon bald darauf sollte der in Kalifornien geborene Sohn hochmusikalischer Eltern ebenfalls zum Saxofon greifen, als Achtjähriger begann er auf dem Altsax, wechselte wenige Jahre später zum Tenorinstrument – und gilt längst als würdiger Nachfahr des Ausnahmejazzers.
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Murray scheint sich dieser Bürde durchaus bewusst zu sein, denn er leugnet weder den Einfluss, noch eifert er dem Idol blindlings nach; solch ein Vorbild ist – zumindest dem wahrhaften Könner – mehr als Verpflichtung, den geweihten Boden würdig zu bestellen. Mit welch eigenständiger Kreativität, Virtuosität und Spielfreude er dies betreibt, bewies David Murray am Montag in Dresden gemeinsam mit seinem Black Saint Quartet beim Jazz in der Semperoper, einem von dieser Zeitung zusammen mit MDR Figaro präsentierten Konzert. Besser gesagt: Einem Konzertereignis!
Der 1955 geborene Musiker, der in den jazzenden Schmelztiegeln von New York und Paris enorm viel aufgesogen und dank seinem faszinierenden Können viel Enormes zu sagen versteht, er mutierte vom Revoluzzer des Free-Jazz zum innovativen Traditionalisten. Was also nicht heißt, er sei stehengeblieben, bewahre!, sondern ein hohes Maß an beständig erneuernder Schöpferlust verinnerlicht und mitzuteilen hat. Die Grundlagen hierfür sind spielerisches Können und grenzenlos kennerhafter Einfallsreichtum.
Mit seinen Mannen Lafayete Gilchrist am Klavier, Jaribu Shahid am Bass und Hamid Drake an den Drums hat er ein adäquates Ensemble kreiert, dessen Kongenialität bestechend ist und dem immer noch neue Wege gelingen. Das Quartett zehrt gewiss von der Vielzahl der im Laufe der Jahre erfahrenen Einflüsse durch renommierte Größen des Jazz, es nutzt die Erfahrungen innovativ und gibt in höchstem Maße inspirierend weiter, was in seinen Hirnen und Händen gereift ist.
Schon mit dem Zwanzigminüter „Yes we can“ als Dresdner Opener haben Murray und Co. das Publikum überzeugt. Wollte man diesen zum Obama-Wahlkampf eingesetzten Titel neuerlich zu interpretieren versuchen, man käme auf die starken afrikanischen Wurzeln, die mit der Moderne der gesamten Welt konfrontiert sind. Man hört in den irren Tempi und wahnwitzig hohen Saxofonausbrüchen aber auch Läufe und Gegenläufe, als sollte das Unvereinbare miteinander vereint werden. Spitzentöne kreischen wie auf hauchdünnnem Eis, der Basss moduliert dazu Selbstgespräch, das Schlagwerk hämmert die Schlachten, die zu schlagen sind. Mit einem kurzen Gedanken zurück ins reale Getümmel wünschte man sich, dass doch alle Schlachten derart kunstvoll, dramatisch und unblutig geschlagen würden! Blutleer blieb bei diesen Könnern dennoch kein einziger Takt.
Sie können auch Ironie, definieren mit flirrenden Linien und zerhackter Unruhe ein Thema wie den uns alle umgebenden – oder von uns ausgehenden? – Stress, liefern sich Wechsel aus grandiosen Soli und spannenden Duetten, die schier zu Duellen geraten. Vier Exentriker, die neben der virtuosen Hatz auch brillante Balladenruhe wagen, sich als Seelenzauberer gebärden, um dann doch wieder in Kavalkaden zu stürzen, sie mit eleganten Modulationen würzen und das Publikum wieder und wieder zu Jubelstürmen hinreißen. Ohne Zugabe geht ein solcher Klasse-Abend nicht zu Ende: Ganz frisch erklang ein noch namenloser Titel, er klang nach durch die laue Nacht.
Mit Freude ist die Absicht der Staatsoper aufgenommen worden, dass die jazzigen Ausflüge zu renommierten Stars auch in Zukunft gepflegt werden. Selbst ein nicht ausverkaufter Abend wie der Montag – bei David Murray eigentlich ein Unding – bringt die Veranstalter glücklicherweise nicht ins Wanken. Mit einem Jazz Special verabschieder sich die laufende Spielzeit schon bald von den gattungsübergreifenden Ausflügen und serviert am 10. Mai mit dem aus Kuba stammenden Pianisten Omar Sosa und seinem Quintett erstklassige Weltmusik.