Denn sie ehrten ihn, indem sie sich nützten: Die Sächsischen Landesbühnen Radebeul haben den 1. Mai als wahren Tag der Arbeit begangen und den scheinbar in die allmähliche Vergessenheit geratenden Dichter Bertolt Brecht aus der Ecke nicht genutzter Aufführungsrechte geholt. Der Premiere zum Feiertag folgte mit „alles was BRECHT ist“ noch eine lange Brecht-Nacht mit viel Musik und passend gewähltem Wort. Doch vorm festlichen Höhenflug ging es in die Ebenen des Schaffens: Schauspieldirektor Arne Retzlaff und das sichtlich motivierte Ensemble des Hauses haben sich am „Kaukasischen Kreidekreis“ geradezu abgearbeitet.
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Trotz Verzicht auf das (durchaus entbehrliche) Vorspiel wurde ein langer Abend daraus, an dessen Ende man sich wieder einmal gefragt hat, wieso denn Brecht heute so selten aufgeführt wird. Die Furcht vor dem Risiko, am großen Dialektiker zu scheitern, kann es allein ja nicht sein. Ist also immer noch eine ideologische Hürde vorm Augsburger Meister? Was wäre das für ein Armutszeugnis.
Radebeul jedenfalls hat gezeigt, wie man es auch machen kann. Und eine Menge Publikum hatte viel Freude daran. Hinterm Brecht-Vorhang, nun ja, tut sich ein fortwährendes Wechselspiel aus Konkretheit und Verfremdung auf, wird die eingeengte Bühne (Ausstattung Cornelia Just) zum Fokus auf philosophische Weite und realistische Welt. Wir blicken auf Grusinien und Persien, spüren Revolutionswirren und tradierten Familienbanden nach, wissen um den Schreibanlass und die historischen Quellen (Brecht schrieb das Stück gegen Kriegsende im kalifornischen Exil frei nach einer alten chinesischen Überlieferung, deren Klabund-Übertragung übrigens 1925 in Meißen uraufgeführt wurde), sind ergriffen von den barbarischen Bestialitäten und den ewigen Emotionen, erinnern ganz plötzlich aber auch heutigen Kindesmissbrauch und den nach wie vor irren Glauben, mit Kriegen die Welt verbessern zu können.
Retzlaff führt souverän durch die Stationen, zeichnet seine Figuren prägnant bis zum Holzschnitt, doch der Verlauf des Langen Marsches lässt den Grund für diese Anlage erkennen und mancherlei Charaktere reifen. Gouverneur Georgi Abaschwili hat nicht viel Zeit dazu, denn ihm wird sehr bald die Kehle durchgeschnitten. Sein Darsteller Michael Mienert hat aber später als frömmelnd falscher Mönch sowie als duckmäuserischer Polizist Gelegenheit zum Spiel. Gouverneursfrau Natella ist als kühle Blonde angelegt und bleibt bei Sandra Maria Huimann so auch konsequent, als es vor Gericht darum geht, die Mutterschaft für Söhnchen Michel (Anton Reinhard) nachzuweisen. Um den hat sich während der blutigen und gefährlichen Revolutionswirren das einstige Küchenmädchen Grusche mit Hingabe gekümmert, ihn als eigenes Kind ausgegeben auch da, wo es ihr arg zum Nachteil geriet. Franziska Hoffmann wächst von der instinktiv helfenden Dienerin zur wahrhaft mütterlichen Freundin heran. Sie hofft auf den Verlobten Simon – ein heroischer Liebhaber und Soldat: Marc Schützenhofer – und lässt sich doch der Schande wegen mit dem siechen Jussup trauen, der nach Kriegsende wundersam genesen ist und seine ehelichen Rechte einfordert. Welche Abgründe hat Brecht da in ein einziges Lehrstück gegossen, welche Komik aber auch?!
Fürst Kazbeki und Adjutant Shalva sind als überzeugende Abziehbilder von Willkür, Macht und Stiefelleckerei Jost Ingolf Kittel und Bernhard Klampfl lebensecht gelungen; viele andere Personen und Darsteller wären zu nennen, doch am Ende besticht vor allem das Ensemblespiel. Und der Kreidekreis!
Den lässt bekanntlich der durchtriebene Dorfrichter Azdak ziehen, um das Kind in dessen Mitte zu stellen. Die Frau, die stärker am Knaben zieht, soll Mutter sein. Natella zerrt, schließlich hängt ein wertvolles Erbteil an Michel, Grusche lässt locker. Sie will dem Kleinen nicht wehtun. Das überzeugt den Richter, nur darauf hat er gesetzt – und spricht der Frau aus dem Volk das geliebte, das liebende Kind zu. Michael Heuser ist in der Robe ein hinreißendes Satyrspiel gelungen. Er jongliert mit der Macht, weiß sie und sich selbst stark gefährdet, er trumpft auf, pokert, blickt den Menschen ins Herz und nimmt als Rächer der Rechtlosen und Habenichtse von den Reichen und Herzlosen. Das ist ein Spagat auf dem Hochseil, denn er sieht den Abgrund, über dem er jongliert. Ein Mime, der den Brechtschen Schatz aus den Worten hebt!
Doch hier geht es auch um Musik. Paul Dessau hat diesem hintersinnigen Gleichnis – Brecht erwies sich darin einmal mehr als Schlitzohr, machte sich auch angreifbar und war doch nicht zu fassen – zupackende Musiken verpasst, die vom Sänger und Akkordeonisten Paul Hoorn (teils tümelnd, teils auch trompetend) sowie von der Geigerin Ulrike Dude und dem Pianisten Uwe Zimmermann reichlich originär vorgetragen worden sind. Paul Hoorn, dessen Ensemble „Das blaue Einhorn“ die anschließende Brecht-Nacht gestaltete, hat sich auch um die musikalische Einrichtung und Leitung bemüht und den Schauspielerinnen und Schauspielern erstaunlich unprätentiöse Qualitäten entlockt.
Wieder am 5. Mai, 18.00 Uhr, im Theater Meißen, sowie am 28.Mai, 19.30 Uhr, im Stammhaus Radebeul