Musikalisch sind die Jahre von 1918 bis 1933 uns Heutigen allenfalls noch in der „Dreigroschenoper“ von Brecht/Weill und in wenigen Werken von Hindemith geläufig. Dass es aber eine ganze Reihe von damals prominenten Zeitgenossen gab, die sich dem neuen Medium Radio verschrieben hatten, ist erst seit kurzer Zeit wieder ins Bewußtsein gerückt: Das Label cpo aus Osnabrück veröffentlicht eine „Edition RadioMusiken“, die als Gemeinschaftsproduktion der Staatsoperette Dresden, des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR FIGARO), von DeutschlandRadio Kultur und dem Archiv der Akademie der Künste Berlin/Brandenburg erscheint. So werden in diesen Tagen Werke von Walter Gronostay, Mischa Spoliansky und Wilhelm Grosz produziert. Ernst Theis hat sich verdienstvoll eder bislang vergessenen Werkgruppe der Radiomusiken aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zugewandt und mit dem Orchester der Staatsoperette Dresden für den MDR bereits Kompositionen von Ernst Toch, Eduard Künneke, Kurt Weill, Paul Hindemith, Max Butting, Franz Schreker und Pavel Haas für den Rundfunk eingespielt.
Nachdem ab 1923 in Deutschland der regelmäßige Rundfunkbetrieb aufgenommen wurde, ergab sich hier ein neues Betätigungsfeld für experimentierfreudige Komponisten, wenn sich das musikalische Programm nicht in Konzertübertragungen oder dem Abspielen von Grammophon-Platten erschöpfen sollte. 1929 produzierte der Musikredakteur der Schlesischen Funk-Stunde Breslau, Edmund Nick, mit seinem Bekannten, dem Berliner Dichter und Schriftsteller Erich Kästner, eine „Lyrische Suite für den Funk in drei Sätzen – Leben in dieser Zeit“. Kästner hatte einige Gedichte aus seiner Sammlung „Herz auf Taille“ mit Zwischentexten versehen und für Nick eine Vorlage für ein Radiostück geliefert, das so noch nicht über einen Sender gegangen war. Die Autoren mussten sich zwar damit abfinden, dass ihr Publikum anonym blieb, aber die Aufmerksamkeit für diese Ursendung am 14. Dezember 1929 war dennoch sehr groß und der Erfolg nachhaltig, wie viele Kritiken zeigen. Es entstand daher eine Bühnenfassung, die an mehreren Theatern, u. a. in Leipzig und Dresden aufgeführt wurde.
Kästner gab dem Lebensgefühl seiner Zeit – es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise nach dem Schwarzen Freitag, dem 25. Oktober 1929 – literarischen Ausdruck. Vom Allerweltsmenschen Kurt Schmidt werden Antworten auf die drängenden Fragen der menschlichen Existenz in den Großstädten erwartet, wie etwa auch in Stücken von Brecht, die zur gleichen Zeit entstanden. Der Lyriker und Moralist Kästner kann aber diese vielfältigen Probleme auch nur beschreiben: Druck der Arbeitswelt (wenn man noch Arbeit hat), Existenzsorgen mit Selbstmordgedanken, fehlende Verbundenheit mit der Natur, Vereinsamung u. ä. Seine Antworten sind Ironie, der gute Rat: Zähne zusammenbeißen „Nun grade“ sowie „Denkt an die, die später kommen“.
Dazu hat Edmund Nick (1891-1973), bekannt als Operetten- und Chansonkomponist, eine pfiffige Musik geschrieben, die den Nerv der Zeit trifft. Chansons und Lieder sowie Chöre wechseln in bunter Reihenfolge wie bei vielen der damaligen Kantaten ab. Neu sind die Ton-Collagen, die im Libretto ausdrücklich vorgeschrieben sind, deren Originalklänge aber nicht überliefert sind: Alltagsgeräusche wie Autohupen, Eisenbahn-Geräusche, Schreibmaschinen-Geklapper, auch Kuhglocken und Fragmente von Volksliedern. Deren Mischung war neu und für den Rundfunk wie geschaffen. In Kästners Textfassung heißt es an einer Stelle: Sentimentale Klangmontage. Oder Nicks Partitur.
All dies hat Chefdirigent Ernst Theis mit Orchester und Chor der Dresdner Staatsoperette sowie den Solisten Elke Kottmair, Christian Grygas, Marcus Günzel und weiteren Sängern und Sprechern vorzüglich musikalisch umgesetzt. So erhält man einen Begriff von der musikalischen Qualität der Partitur Edmund Nicks. Das ist schon der Entdeckung wert. Wer darüber hinaus wissen will, wie das 1929 im Rundfunk geklungen hat, der kann im Anhang an die moderne Aufnahme auf der CD Seite 2 noch einige interessante Ton-Dokumente hören. Auch hier kann man spekulieren, wie sich dieses Genre weiterentwickelt hätte, wenn nicht das NS-Regime den Rundfunk „gleichgeschaltet“ und damit auch diese Musikentwicklung ausgeschaltet hätte…