Wenn Michael Sanderling ab der kommenden Saison Chefdirigent der Dresdner Philharmonie wird, tritt er ein schweres Erbe an. Nicht musikalisch – die Philharmonie hat sich ihre Tugenden, die Spielfreude, die Offenheit für ein neues Repertoire, die charakteristische Klangkultur in Streichern und Bläsern, durchaus bewahrt und in einigen Facetten durch Rafael Frühbeck de Burgos verfeinern können. Nein, die Bürde ist anderer, und zwar kulturpolitischer Art.
Dresdens Kultur lebt, der städtischen Kulturpolitik zum Trotz. Wo immer man hinsieht: allerorten gibt es Engagement. Es existiert offenbar bei vielen der feste Wille, langjährig gewachsene kulturelle Werte zu bewahren, zu pflegen und auszubauen. Und wo immer man hinsieht, versuchen Stadtpolitiker sich mit Kulturthemen lautstark zu profilieren und gleichzeitig parteipolitisch abzugrenzen. Michael Sanderlings allzu kurzfristige Ernennung ist da keine Ausnahme. Die Oberbürgermeisterin lässt sich natürlich gern mit dem "Neuen" fotografieren, und der "Beigeordnete des Geschäftsbereiches Kultur", Ralf Lunau, verliert öffentlichkeitswirksam warme Worte über den gewünschten Dirigenten-Nachfolger. Gute Nachrichten sind in Dresdens Kulturleben dieser Tage selten.
Sind nämlich Entscheidungen gefragt, die dem städtischen Kulturleben neue Impulse geben könnten, ist man bei Dresdens Politikern leider an der falschen Adresse. Wohl versucht die OB nach der Pleite mit dem von ihr favorisierten Eventmanager Wolfram Köhler immer wieder, selbst Schwerpunkte im Kulturfach zu setzen. Der Kulturbürgermeister (bis Anfang des Jahres findet man in städtischen Pressemeldungen diese Bezeichnung, neuerdings ist er "Beigeordneter") Ralf Lunau sieht neben Orosz blass wie eh und je aus. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er mit diesem Amt belohnt wurde, weil er half, die städtische Wohnungsgesellschaft abzuwickeln, und nicht, weil er sich je inhaltlich auf dem Gebiet verdient gemacht hätte. Wie sollte er also auf dem Gebiet der Kultur kraftvolle Impulse setzen? Keiner der Kulturschaffenden der Stadt nimmt Lunau ernst; man arrangiert sich irgendwie, das ist alles.
Kann denn dieser Tage irgendjemand, dem Dresdens Kultur in ihrer ganzen Breite am Herzen liegt, die Worte "Staatsoperette", "Theater der Jungen Generation" oder "Kraftwerk Mitte" noch hören, ohne in bitteres Gelächter auszubrechen? Viel zu lange hat sich die Stadt an diesem Thema vorbeigedrückt. Immer wieder wurden neue und in letzter Zeit auch wieder alte Vorschläge aus den Zauberhüten verschiedener Stadträte gezogen. Mal sollten Operette und TJG zusammenziehen, dann wieder nicht. Mal sollte mit ihnen das Wiener Loch gestopft werden, dann wieder nicht. Kürzlich sprach Helma Orosz in der Causa Operette ein Machtwort. Es ist nichts wert, da sich Tage später neue Mehrheiten für neue Vorschläge fanden. Das Thema ist öffentlich ausgelutscht, es ist eine Farce. Und wohl niemand, noch nicht einmal Operettenintendant Wolfgang Schaller, würde sich ernstlich wundern, wenn die Oberbürgermeisterin irgendwann in den nächsten Monaten verkündete: Entschuldigung, wir haben kein Geld für den Umzug der Operette. Sie muss leider bleiben, wo sie ist. Wer kann das voraussehen?
Ein ähnlich verbranntes Thema ist der Umbau des Kulturpalastes in einen Konzertsaal für klassische Musik. Für und wider wurden jahrelang diskutiert, bis die Köpfe rauchten, die vertriebenen Volksmusikfans tobten und die Philharmonie nicht mehr wusste, ob sie mit der von der Stadt favorisierten Variante nun glücklich sein sollte oder nicht. Ein fantastischer Philharmonie-Chefdirigent wurde in diesem Streit verschlissen. Sein Nachfolger Frühbeck de Burgos hielt sich lieber abseits, wohl wissend, dass in seiner Amtszeit da sowieso nichts in irgendeiner Richtung passieren würde. Und wohl niemand, noch nicht einmal Philharmonieintendant Anselm Rose, würde sich ernstlich wundern, wenn die Oberbürgermeisterin irgendwann in den nächsten Monaten verkündete: Entschuldigung, wir haben kein Geld für den Umbau des Kulturpalastes. Er muss – mit einigen Reparaturen – leider so bleiben, wie er ist. Wer kann das voraussehen?
Wohin man schaut, mauern die Stadtverordneten, wenn es um die Kultur geht. Angemessene Zuschüsse für die Musikfestspiele? Mitnichten. Dresden soll lieber "Sportstadt" werden (Orosz), die Kultur läuft da schon irgendwie mit. Die Touristen kommen sicherlich auch weiterhin, werden sie doch zukünftig auch mit dubiosen Zwingerfestspielen gelockt. Die Finanzierung dieser Festspiele ist, so teilte die "Dresden Event GmbH" letzte Woche auf einer Pressekonferenz mit, über den Verkauf von Eintrittskarten und Sponsoren gedeckt. Nachfrage: und wer finanziert die Ausfälle, wenn es ein paar Tage regnet? Betretenes Schweigen auf dem Podium. Dann, tja, dann werde man sich zusammensetzen. Die "Dresden Event GmbH" sei ja eine Tochter der Stadt, die Firma könne und wolle die Stadt in so einem Fall natürlich keineswegs pleitegehen lassen. Und überhaupt, so GmbH-Geschäftsführerin Annett Reeder, bei schlechtem Wetter würden die Festspiele einfach in den Kulturpalast umziehen. Der stehe im Sommer nämlich, Überraschung!, leer.
Michael Sanderling wird all diese Einzelheiten kennen. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er trotzdem bei der Philharmonie antritt und den festen Vorsatz erkennen ließ, das Orchester durch die anstehenden Krisenzeiten zu führen. Die Probleme stehen jedem, der dieser Tage ein Philharmoniekonzert besucht, vor Augen und Ohren: der Saal bleibt gewöhnlich halb leer. Warum? Wohl weil viele langjährig treue Besucher den drohenden Umzug in Ausweichquartiere zum Anlass genommen haben, ihr Abonnement zu kündigen. Und weil die letzte Generation derjenigen, die zu DDR-Zeiten in den Kulturpalast strömten, weil es in Dresden einfach zum guten Ton gehörte, Kultur zu genießen, langsam aber sicher ausstirbt. Genau kann die Gründe jedenfalls momentan keiner angeben; die entsprechende Anfrage von »Musik in Dresden« bei der Philharmonie – mit der Bitte um aktuelle Besucherzahlen im Vergleich mit den Vorjahren – blieb bis heute unbeantwortet.
Mit Sanderling als neuem Chef bekäme der designierte Staatskapell-Chefdirigent Christian Thielemann einen gewichtigen Mitstreiter um Dresdens kulturelle Werte. Wir alle haben das bitter nötig. Wenn denn die Intendanten der Stadt – Rose, Kreile, Vogler, Jaenicke, Schaller – endlich einmal mit einer Stimme sprächen. Wenn sie den Stadträten unmissverständlich klarmachten, dass es so nicht weitergehen kann. Wenn der Beigeordnete der Stadt für den Bereich Kultur sich denn endlich einmal als Kulturbürgermeister verstünde und sich auch öffentlich für die Kultur einsetzte. Und wenn die Dresdner verstünden, was sie im Begriff sind zu verlieren. Dann wäre der erste Schritt getan, damit Dresdens kulturelles Erbe tatsächlich bewahrt, gepflegt und ausgebaut werden kann.
(Foto: Jörg Simanowski)