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„Die Einflussnahme der Politiker ist unmöglich.“ Dirigent Ádám Fischer über Korruption und Vetternwirtschaft im Musikeralltag

Herr Fischer, vor zwei Wochen saß ich in einem Budapester Café. Am Nebentisch las jemand mit ernstem Blick die Zeitung Nepszabadsag. An diesem Tag verkündeten Sie Ihren Rückzug aus der Budapester Oper. Können Sie den Anlass noch einmal schildern?

Es gab zwei konkrete Anlässe für meine "Flucht": erstens die Tatsache, dass die Künstler jederzeit zu den Politikern laufen, um auf Besetzungs- oder Finanzierungsfragen Einfluss zu nehmen. Und zweitens, dass ein von der Regierung ernannter Kommissar sämtliche Vereinbarungen umschmiss, Vorstellungen, Produktionen, Besetzungen usw. veränderte, ohne mich zu konsultieren. Er hat mich persönlich dadurch unglaubwürdig gemacht.

Besetzungsfragen wurden „auf politischem Wege“ erledigt, ohne dass künstlerische Aspekte eine Rolle spielten?

Pauschal kann man das so nicht sagen, doch es hat zum Beispiel einen Fall gegeben, der für die Situation typisch ist. Eine ältere, "verdiente" Künstlerin des Hauses war zum Intendanten gegangen und hatte ihm gesagt, wenn er ihren nahen Verwandten nicht unter Vertrag nähme, würde sie zum Ministerpräsidenten gehen. Der würde ihn, den Intendanten, dann rausschmeißen. Daraufhin ist der Intendant zu mir gekommen – da das ein Orchestervertrag war, musste er die Personalie mit mir besprechen – und sagte mir, was es für ein großer Gewinn für unser Haus wäre, den sehr begabten jungen Verwandten zu engagieren. Daraufhin habe ich einen Wutanfall bekommen. Und dann haben fast alle, denen ich die Geschichte erzählt habe, mich zu beruhigen versucht: "Das verstehe ich nicht. Worüber regst du dich denn so auf?" So etwas sei doch ganz normal.

"Was regst du dich denn so auf?" (Quelle: musicalcriticism.com)

Das Hauptproblem ist ja nicht die Künstlerin, nicht der Intendant, sondern alle anderen, die das Ganze für ein Kavaliersdelikt halten. Aber Ungarn ist so. Heute denke ich, ich bin dort die ganze Zeit ein Fremdkörper geblieben. Ich weiß nicht, ob ich letztendlich sogar in diese Position geflüchtet bin. Wie der Ehemann in den französischen Theaterstücken: alle wissen, wie ich hintergangen werde, ich bin der letzte, der irgendetwas erfährt. Das hat mir eigentlich ganz gut gefallen, ich konnte mich dadurch auch ein bisschen fernhalten.

Wie, glauben Sie, geht es an der Oper jetzt ohne Sie weiter?

Die Abläufe am Haus werden genauso weitergehen wie bis jetzt, man kann diese Zustände nicht ändern. Vereinbarungen, Verträge nicht einzuhalten, ist in ungarischen Künstlerkreisen fast normal, Man kann dadurch unmöglich verlässlich planen, jedenfalls nicht mit meiner in Deutschland sozialisierten Logik… Aber es gab mehrere Gründe, warum ich aufgegeben habe. Sie hängen nicht nur mit der Regierung, sondern auch mit dem Ensemble zusammen.

Wurde Ihnen als Dirigent von Seiten der Intendant, von Seiten der Musiker genügend Respekt entgegengebracht?

Künstlerische Aspekte haben für meinen Weggang keinen Ausschlag gegeben. Es ärgern mich ganz andere Sachen: Von der Gewerkschaft wurde mir zum Beispiel unumwunden gesagt: die Aufgabe des Dirigenten ist, um höhere Löhne für die Musiker zu kämpfen. Mit so einer Aufgabe kann ich dirigieren wie Carlos Kleiber – das nützt gar nichts. Für so eine Aufgabe bin ich einfach nicht der Richtige, dafür habe ich die Energie nicht. Ich musste leider feststellen, dass diejenigen, die mich überredet haben, an die Oper zu kommen, gewusst haben, wie es hier läuft. Und dass ich nicht morgens bis abends am Haus sein konnte, wussten Sie auch.

Ein Kulturministerium gibt es ja nicht mehr. So hat das zuständige Ministerium "für Nationale Ressourcen" den Staatsoperndirektor Lajos Vass und den Betriebsdirektor Attila Szabo abgesetzt. Begründung waren "finanzielle Unregelmäßigkeiten". Tatsächlich hat die Oper offenbar Millionenschulden. Was ist da schief gelaufen? Handelt es sich um Unfähigkeit im Amt, um Korruption, um Vetternwirtschaft?

Ich glaube nicht, dass grobe Fehler gemacht wurden. Auf der ganzen Welt ist es doch so, wenn Sie ein solches Haus leiten, sind Sie ständig mit einem Bein im Gefängnis. Sie müssen auf Jahre voraus Sänger engagieren, da sind die Haushalte noch gar nicht verabschiedet. Auf einmal kostet das Bühnenbild für eine Inszenierung doppelt so viel, was wollen Sie da machen. Und dann dieses blöde Spielchen mit den Überstunden…

…die offenbar bei der Technik im großen Maßstab unnötig anfielen?

Ja, Sie müssen sich das folgendermaßen vorstellen. Die Aufbau- und Abbauzeiten für verschiedene Vorstellungen sind unterschiedlich lang, bestimmte Kombinationen von Vorstellungen gehen also nur, wenn die Technik Nachtschichten schiebt. Es hieß dann aus der Chefetage: man darf solche Vorstellungsreihen eben nicht planen. Irgendwie funktionierte das aber alles nicht, am Ende fielen doch wieder Überstunden an. Ein Beleuchter aus München, den wir für die "Blaubart"-Produktion engagiert hatten, hat mir dann die Augen geöffnet. Es scheint so zu sein, dass die Techniker auf diese Überstunden einfach angewiesen sind, die sind ein fixer Teil ihres Einkommens! Das heißt, sie werden provoziert. Sicher, wenn einer mit der Stoppuhr daneben stünde, könnten gewisse Leute bestimmt beweisen, dass es gar nicht anders geht. Kurz: ich wurde ausgenutzt. Der Direktor Lajos Vass wurde auch ausgenutzt. Und jetzt wird ihm "verschwenderischer Umgang mit Finanzmitteln" vorgeworfen. Das Haus muss mit Kürzungen umgehen und schiebt dabei eine Welle von unbezahlten Rechnungen vor sich her. Die Bühnenarbeiter haben ihre Überstunden übrigens nun seit acht Monaten nicht ausgezahlt bekommen.

Sie waren an Häusern in Deutschland in gleicher Position wie an der Budapester Oper, also als Generalmusikdirektor, tätig. Sind denn die Verhältnisse dort wesentlich anders gewesen?

Mehr oder weniger kenne ich solche und ähnliche Geschichten auch aus Mannheim, aus Kassel oder Freiburg. Wer ein bisschen vom Theater versteht, muss auch Klagen einplanen. Der Unterschied liegt woanders, und das ist das Hauptproblem: die Einflussnahme der Politiker, die ist unmöglich. Wenn ein neuer Intendant gefunden werden soll, dann gibt es ein Board, einen Aufsichtsrat, es gibt Findungskommissionen. Aber dass er vom Ministerium eingesetzt wird? Ein Minister versteht von solchen Sachsen nichts, er denkt nur politisch. Das macht die ganze Sache so unmöglich. Und Ungarn ist ein kleines Land, jeder kennt jeden. Da ist man eben auch mit Vetternwirtschaft schnell dabei.

Auf dem internationalen Korruptionsindex teilen sich dieses Jahr Deutschland und Österreich den fünfzehnten Rang. Ungarn liegt auf Rang 50, hinter den Seychellen. Wo macht sich die Korruption im Berufsleben bemerkbar?

Was die Korruption betrifft, ist sie im Land weit verbreitet. Ich habe nichts Konkretes in meinem Beruf bemerkt, aber wahrscheinlich wollte ich einfach nichts merken. Tatsache ist, dass alle einander zwar sofort Korruption unterstellen, doch konkret habe ich keinen Fall erlebt. Was natürlich nicht heißt, das es solche nicht gegeben hat. Ich glaube, den Menschen am Haus geht es nicht gut, sie kämpfen um ihr Überleben. Und dann kommt da einer, der keine Ahnung von Lohn und Gehältern und so weiter hat. Davon wollte ich ja auch gar nichts wissen! Ich wollte bei finanziellen Verhandlungen nie dabei sein. Glauben Sie, Seiji Ozawa wusste, was ein Chorsänger an der Wiener Staatsoper verdient hat? Na also. Ich wollte die nötigen Strukturveränderungen, ja, aber keiner hat sie in Angriff genommen.

Was müsste man denn zuerst reformieren: die ungarische Kulturpolitik – oder die Verwaltung der Budapester Oper?

Was mich ärgert, ist die Rechtsunsicherheit. Heute weiß ich, warum all diese Leute in der Oper so undiszipliniert sind. Alles zielt auf das kurzfristige Überleben. Das ist wie in der Geschichte von der Grille und der Ameise. Die Ameise kann vorsorgen und sich abrackern – wenn die faule Grille erreicht, dass der Winter nicht kommt, ist das sowieso alles umsonst.

Was die Absetzung von Vass und Szabo angeht, kann ich wenig beitragen. Ich würde für die beiden meine Hand durchaus nicht ins Feuer legen. Ich glaube andererseits nicht, dass die beiden allein Schuld an der finanziellen Lage sind. Aber all das sind nur Vermutungen, ich kannte und kenne die genauen finanziellen Rahmenbedingungen des Hauses nicht.

Das ungarische Durchschnittseinkommen liegt bei etwa 700 Euro. Wer geht in Budapest in die Oper, wer in die Konzerte? Beschreiben Sie einmal den heutigen Opernalltag…

Die Budapester Staatsoper lebt seit Jahrzehnten von Touristen. Das wird sicher auch so bleiben und hat damit zu tun, dass das Haus sehr schön ist. Sie kennen diese Art von Ausländern: die Touristen, die vormittags vorbeischlendern und sehen: oh, heute gibt es Tosca oder Traviata… Die kommen immer rein. Und sie gehen leider oft in der Pause… Das Abonnementpublikum ist sehr konservativ. Ich habe den "Tristan" im Palast der Künste gemacht, mit Christian Franz, eine fantastische Sache. Den haben wir in eine Abbonnementreihe für die Staatsoper hineingenommen. Die alten siebzigjährigen Tanten hat das gestört. „Warum soll ich am Ende in die Außenbezirke gehen?”, fragen sie sich, und manche bleiben lieber zu Hause.

"Sehen und gesehen werden", und die Oper besuchen – aber keine Ahnung von Musik?

Mein Gefühl ist: das Staatsopernpublikum ist ein uninteressiertes Publikum. Nehmen Sie allein die Tatsache, dass keiner daran etwas findet, „Othello“ mit drei Pausen zu machen. Ich habe noch nie drei Pausen gemacht, bei keiner Vorstellung in meinem Leben! Aber das gibt natürlich wieder Überstunden für die Technik… Die Leute kommen rein, gucken sich die schönen Kostüme an, applaudieren bei jeder Arie. Dass die uns musikalisch beurteilt hätten, habe ich wenig bemerkt.

Ende September waren Sie bereits vom Amt des Generalmusikdirektors zurückgetreten. Nun haben Sie Ihre Budapester Termine noch weiter gekürzt, nach der Spielzeit werden Sie nicht mehr hierher zurückkehren?

Ich werde in der nächsten Spielzeit nichts in der Oper dirigieren, auch für danach plane ich im Augenblick für das Opernhaus nichts mehr. Meine Wagner-Tage will ich weitermachen, wenn dort kein Direktionswechsel stattfindet – aber ins Opernhaus kriegt mich keiner mehr. Lustigerweise bin ich im Frühjahr mit den Wiener Symphonikern im Rahmen einer kleinen Europatournee in Budapest. Da treten wir im Palast der Künste auf.

Ihr jüngerer Bruder Iván ist Dirigent des Budapest Festival Orchestra, das in diesem Palast residiert. Hatte er mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie Sie – haben Sie mit ihm über Ihren Schritt gesprochen, Budapest zu verlassen?

Mit Iván habe ich vor dem Rücktritt mehrmals gesprochen. Er hat mir dazu geraten, beziehungsweise mich darin bestärkt. Ob er direkte Probleme mit der Finanzierung des Festival Orchestra hat, weiß ich nicht. Aber was nicht ist, kann immer noch werden. Sicher ist in Ungarn zurzeit nichts. Ich möchte aber den Teufel nicht an die Wand malen…

Im Foyer der Oper gibt es eine Ausstellung über den jungen "Mahler Gustav", der hier im Oktober 1888 sein Amt als Königlicher Operndirektor antrat. Er verjüngte das Ensemble, setzte mehr Proben an, traf dabei auf große Widerstände. Drei Jahre später ging er nach Hamburg. Wohin werden Sie nun gehen?

Wohin ich gehe, das weiß ich auch noch nicht. Ich möchte sicher mehr Zeit mit dem Dänischen National Chamber Orchestra als bisher verbringen und intensiver an der Gesamteinspielung aller Mozart-Sinfonien und ab 2013 aller Beethoven Symphonien arbeiten. Sehen Sie, in Kopenhagen bin ich seit zehn Jahren. Dort ist es richtig schön. Ich habe ein eigenes Stammpublikum. Wir haben uns dort einen sehr persönlichen und individuellen Mozartstil erarbeitet. Wir machen einen sehr dramatischen, wilden Mozart. Das war für die Dänen ganz neu. Und die Musiker sind mit Begeisterung dabei. Mir wird vermittelt, dass das einen Kultstatus hat! Deshalb fühle ich mich dort sehr wohl. Die intensive Auseinandersetzung mit den unbekannten Mozartwerken – ich habe in Kopenhagen genau die gleiche Chance wie vor 15 Jahren mit Haydn. Es ist wie das Erlernen einer Sprache. Nach und nach kommt man drauf, was man nicht alles weiß.

Was ich in Dänemark gelernt habe: dass ich mich nicht verleugnen darf. Ich muss zu meiner Persönlichkeit stehen. Ich muss sie benutzen und das Publikum dazuholen. Ich darf nichts nur deshalb so spielen, weil der Komponist das so gewollt hat. Das wäre Dienst nach Vorschrift. Ich muss das, was er gewollt hat, zu meiner eigenen, glühenden Überzeugung machen.

Und das geht zum Beispiel auch ohne Originalinstrumente?

Die alten Instrumente sind wichtig, um die Intentionen des Komponisten zu verstehen. Wir müssen sie verinnerlichen. Darum muss sich jeder mit alten Instrumenten beschäftigen. Aber wenn man die Idee der Komposition verstanden hat, dann ist sekundär, mit welchen Instrumenten man spielt. Ich denke aber auch, dass bei der Musik des 18. Jahrhunderts die Persönlichkeitswelt des Interpreten ein ganz wichtiges Detail ist. Wer sich hinter den Noten versteckt, begeht ein Verbrechen, das schadet dem Werk nur. Frei nach Gustav Mahler: Das, was ihr da Tradition nennt, ist oft nichts als Schlamperei. Und ich ergänze: das, was ihr da Authentizität nennt, ist oft nichts anderes als Faulheit. Man kommt eben nicht umhin, einen Ton, ein Werk auch zu interpretieren.

Vier bereits vereinbarte Termine werden sie also noch dirigieren, nichts darüber hinaus. Schluss, aus – ohne dass Sie schon andere Pläne, Aussicht auf ein neues künstlerisches Amt hätten?

Ich weiß noch nicht, wohin ich jetzt gehe. Es ist auch nicht so wichtig. Zudem hat meine Frau euphorisch auf das Freiwerden der für die Staatsoper Budapest freigehaltenen Perioden der nächsten Jahre reagiert. Naja, sie glaubt noch gar nicht richtig, dass ich meinen Rückzug wirklich ernst meine… Wir haben seit einem Jahr ein Enkelkind in Schottland. Sie will da so oft wie möglich hin. Und auch ich muss zugeben, dass ich bis jetzt dachte, das Schönste und Wichtigste im Leben sei ein Kind zu haben. Das stimmt aber nicht, ein Enkelkind zu haben ist noch schöner.

Das Interview mit Ádám Fischer erscheint am 1. Dezember in »crescendo«.