Eben die eher unbekannte „Iolanta“, nun das überaus populäre D-Dur-Violinkonzert von Tschaikowski – sehen Sie sich als Sachwalter des russischen Repertoires?
Frei nach Otto Klemperer sehe ich mich vor allem als Anwalt guter Musik. Es macht keinen Unterschied, ob sie russisch, deutsch, englisch, französisch oder italienisch ist, solang sie gut ist und ich als Interpret dahinterstehe. Nachdem ich hier schon Schostakowitschs „Leningrader Sinfonie“ dirigiert habe, damals mit Ravels Klavierkonzert für die linke Hand, gab es nun den Wunsch, vor seine Vierte ein etwas populäreres Werk zu setzen. Mit Tschaikowskis Violinkonzert haben wir etwas gefunden, das zwar fast totgespielt scheint, umso mehr aber gute Anwälte braucht, um seine Vitalität zu offenbaren. Ich spreche bewusst im Plural und beziehe Solist und Orchester mit ein.
Nach der hier kaum bekannten „Iolanta“ dürfte die Transparenz dieses Konzertes sowohl die Nähe Tschaikowskis zu Mozart und Schumann als auch dessen Rolle als Wegbereiter der Moderne beweisen. Dieser Mann war mit beiden Beinen fest in der russischen Kultur verankert – und dennoch ein Kosmopolit, der in den Osten genauso wie in den Westen gehört. Viel erstaunlicher ist ja, beinahe schizophren, wie sehr sich die Musik dieses Atheisten von der orthodoxen Chortradition speiste. Jemand, der nicht an Herrn Gott und das ewige Leben glaubte, hat in seiner Kunst Gebete vertont.
Das Ungewöhnliche an diesem Konzert ist die obsessive Suche des Individuums nach Heil und Erlösung im Volke. Da muss die Violine als Protagonist gegen das ganze Orchester antreten. Ich denke, Tschaikowski ist als Persönlichkeit bis heute nicht richtig verstanden und wird oft noch immer aus den falschen Gründen geliebt. Auch deswegen halte ich es für sehr angebracht, ihn in ein Konzert mit Schostakowitsch zu stellen. Beide vereint ja zum Beispiel diese falsche Freude, wie ich es nenne, wo Dur entgegen der klassischen Tradition als etwas Negatives gesehen wird und Moll als etwas Heimisches, Intimes, Inniges, Menschliches. So ähnlich ist die Gegensätzlichkeit von Walzer und Polonaise zu verstehen. Der Walzer symbolisiert immer die Menschlichkeit, die Polonaise steht für den oberflächlichen und kalten Glanz der Gesellschaft. Für das Fatum-Thema, denken Sie an „Eugen Onegin“ aber auch an den Beginn der 4. Sinfonie.
Sowohl die konzertante Oper als auch das Violinkonzert sind erstklassig besetzt – war das Ihre Wahl? Und welche Position Ihrer gehäuften Januar-Präsenz wurde eigentlich zuerst angefragt, Oper oder Konzert?
Da muss ich etwas weiter ausholen: Ich habe eine Zeitlang ja in Dresden studiert und schon damals die Kapelle häufig gehört, irgendwann dann auch hier hospitiert und neben meinem Vater als Assistent gearbeitet, der mich einmal als Klavierspieler in der Kammersinfonie von Edison Denissow eingesetzt hat.
2002 waren „Die Teufel von Loudon“ von Penderecki meine erste Produktion am Haus, vier Jahre später gab es das erste Konzert bei der Kapelle, mit der ich seitdem jedes Jahr einmal arbeite. Vadim Repin war schon 2006 beim Violinkonzert von Schostakowitsch mit dabei, jetzt gab es den Wunsch, dass wir beide wieder zusammen herkommen. Ich muss Ihnen nicht sagen, wie gern ich da zugesagt habe.
Als dann noch die Anfrage der neuen Intendanz kam, eine Oper zu machen, hat sich aus Zeitgründen ergeben, dass nur ein Termin in der Nähe der Kapellkonzerte in Frage kam. Die faszinierende Besetzung der „Iolanta“ haben wir gemeinsam gefunden. Ich halte es für sehr wichtig, dass ein Dirigent da mitspricht, denn es muss nicht nur die sängerische Qualität stimmen, sondern auch die Chemie. Gerade bei einer konzertanten Produktion ist das wichtig, weil da die Sänger den ganzen Abend hinter meinem Rücken platziert sind. Da muss man sich blind vertrauen können und sehr gut verstehen.
Wie fügt sich zu diesem Konzert aber die 4. Sinfonie von Schostakowitsch?
Dessen Sinfonik ist im besten Sinne instrumentales Theater. Instrumentalsolisten und jede Gruppe des Orchesters werden wie Protagonisten im Schauspiel behandelt. Das ist aber nicht seine Erfindung, sondern er hat da viel von Tschaikowski – Stichwort Opernsinfonik – übernommen und ist natürlich auch stark von Mahler beeinflusst. Aber ich denke, es ist ein Fehler, ihn bloß als musikalischen Publizisten, als Kritiker der Gesellschaft zu sehen.
Dieses Werk ist politisch umstritten gewesen, wurde jahrelang nicht aufgeführt. Sie dirigieren es jetzt mit dem Orchester der deutschen Erstaufführung – was empfinden Sie dabei?
Für mich ist es trotz der frühen Nummer ein durch und durch reifes Meisterwerk, das alles übertrifft, was Schostakowitsch dann bis zur 13. Sinfonie geschaffen hat. Erst damit fand er wieder zu seinem Stil, natürlich auch mit den „Zwetajewa-Liedern“ und der „Michelangelo-Suite“.
Die Vierte ist ein einzigartig tragischer Fall, von der selbstgewählten Stilrichtung gewaltsam abgebracht worden zu sein. Nicht nur diese Partitur lag 25 Jahre in der Schublade, auch die eigene Kreativität hatte Schostakowitsch ja 25 Jahre lang zwangsläufig eingesperrt und gefesselt. Aber es finden sich versteckte Zitate der Vierten in jeder der folgenden Sinfonien. Weil er sich sicher war, dass dieses Werk zu seinen Lebzeiten nie aufgeführt würde, hat er dieses „ungeborene Kind“, das ihm so ungemein wichtig war, immer wieder irgendwo hineingemogelt.
Trotzdem war sein Entschluss, dieses Werk zurückzuhalten, natürlich kein Akt der Feigheit, sondern eine sehr weise Entscheidung. 1936 hätte ihn diese Sinfonie den Kopf gekostet. Und uns wären all die späteren Kompositionen entgangen.
So ähnlich hatte ja auch Gustav Mahler, allerdings unter ganz anderen Lebensumständen, in seinem „Klagenden Lied“ schon all die Sinfonien vorweggenommen.
Dieses Werk, Schostakowitschs Vierte nun am Ort der deutschen Erstaufführung zu spielen, das ist ein unglaubliches, fast mystisches Gefühl. Der Geist dieser legendären Aufführung unter Kondraschin ist immer noch da! Trotz der zeitlichen Entfernung – es dürfte ja kein Musiker mehr im Orchester sein, der damals dabei war – scheint es ein instinktives Verständnis für die Grundproblematik zu geben. Deren Topos kam erst im 20. Jahrhundert so gravierend zustande, auch wenn es natürlich schon lange vorher Inquisition und Denunzierungen gegeben hat. Aber Gehirnwäsche und Manipulation des Individuums erreichten – nicht nur in Deutschland und Russland – einen Höhepunkt an Unmenschlichkeit, der in barbarischer Weise jede zivilisierte Grundlage zerstörte.
Um diese Musik zu spielen, muss man nicht durch die Hölle von Gulag und Konzentrationslager gegangen sein, sollte aber unbedingt ein paar Bücher darüber gelesen haben. Denn hier geht es nicht um Schönheit, sondern um Wahrheit. Und die kann sehr hässlich sein.
Es ist in der Literatur ja sehr ähnlich. Man kann die Bücher von Kafka, Huxley, Orwell oder auch Grass heute nicht lesen, ohne das Zeitgeschehen ihrer Entstehung mitzudenken. Oder gehen Sie zurück zur Französischen Revolution – zeitgleich zu einem Jean-Jacques Rousseau gab es einen Marquis de Sade. Wenn man um die Kontexte weiß, versteht man einfach viel mehr.
Sie kennen die Staatskapelle aus vielfacher Zusammenarbeit und haben sie als Student erleben dürfen, als Ihr Vater Michail Jurowski sehr häufig in Dresden tätig war. Wie hat sich das Orchester in den vergangenen zwanzig Jahren entwickelt?
Das Orchester hat sich unglaublich verjüngt. Da hat eine Selbsterneuerung stattgefunden, die noch nicht vollendet ist. Vor zwanzig Jahren war die Kapelle noch sehr den Traditionen und Spielweisen der 50er und 60er Jahre verbunden. Heute steht sie am Scheideweg und wird zeigen müssen, ob sie ihre Persönlichkeit in eine konservative Richtung oder mehr nach vorn weiterentwickelt. Auf jeden Fall ist sie wesentlich weltoffener und auch demokratischer geworden.
2011 jährt sich die Städtepartnerschaft Dresden – St. Petersburg (damals Leningrad) zum 50. Mal. Finden Sie, dass so etwas heute noch lebt?
Ich sehe natürlich viele russische Touristen hier, gerade zu Weihnachten. Aber für mich ist das nicht kreativ genug, es könnte in beiden Richtungen viel mehr getan werden, um die kulturelle Zusammenarbeit zu stärken. Auch die Staatskapelle hat dies vernachlässigt, vor allem bei Tourneen. Unter Sanderling und vielen anderen herrschte hier ein lebendiges Verständnis für die russische Musik. Das scheint nicht mehr en vogue zu sein, da fast nur Wagner und Strauss als historische Repräsentanten gepflegt werden. Aber wenn ein Orchester geistige und musikalische Horizonte erweitern will, muss es sich auch selber entwickeln.
Wenn Sie mit der Kapelle jetzt auf Tournee nach Paris und Köln gehen, sehen Sie sich als musikalischen Botschafter Russlands?
Ich versuche mich mit jedem Orchester, mit dem ich arbeite, immer als Amalgam zu sehen, werde meine russische Herkunft zwar nie verbergen, aber es ist schon ein Unterschied, ob ich mit meinem Londoner Orchester, mit dem Chamber Orchestra of Europe, mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment oder mit der Staatskapelle gastiere. Es ist ein anderer Klang vorhanden, ein anderes Ausgangsmaterial. Schostakowitsch habe ich in Paris schon oft dirigiert, aber noch nie mit einem deutschen Orchester. Ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis, zumal ja zu erwarten ist, dass Irina Schostakowitsch, die in Paris lebt, zu unserem Konzert kommen wird.
Irina Schostakowitsch, die Witwe des Komponisten, war kürzlich auch bei den 1. Internationalen Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch zu Gast. Dort ist Ihr Vater für den inzwischen verstorbenen Rudolf Barschai eingesprungen. Was halten Sie von so einem Festival, werden Sie selbst auch mal dabei sein?
Im Moment ist da noch nichts vereinbart. Im ersten Jahr ging das aus Zeitgründen nicht, wegen Glyndebourne. Allerdings finde ich, dass es richtig war, erst mal der älteren Generation den Vortritt zu geben.
Solche Orte zu ehren, finde ich sehr wichtig. Das könnte auch zusammen mit Messiaen und Görlitz geschehen. Ohne die Pflege der Erinnerung kommt keine Kulturgeschichte zustande. Das bedeutet Unkultur und die Gefahr einer neuen totalitären Tragödie. Die beginnt immer mit einem zu kurzen Gedächtnis. Ich denke, verzeihen, vergeben sollte man auf jeden Fall. Aber vergessen darf man nicht.
Noch eine persönliche Frage: Sie haben in relativ jungen Jahren eine steile Karriere erreicht, Glyndebourne und London Philharmonic (dort zudem als Nachfolger Kurt Masurs!) sind erstrangige Adressen. Ist Ihre Herkunft aus einer berühmten Musikerfamilie – der Großvater war Komponist, der Vater und inzwischen auch der jüngere Bruder sind Dirigenten, auch Ihre Schwester ist Musikerin – nur Glück oder auch Belastung?
Etwas Glück gehört auf jeden Fall dazu. Ich bin ein mehrfacher Glückspilz, nicht nur durch diese traditionsreiche Musikerfamilie, sondern auch, weil ich in der damaligen Sowjetunion groß geworden bin, wo ich diese Ausbildung genießen und dann relativ unproblematisch in der Umbruchszeit im Westen ziemlich rasch meine Karriere starten konnte. Aber Professionalität, eigene Verantwortung und viel Fleiß gehören natürlich mit dazu, sonst wäre Glück ein leeres Wort.
Ich bin heute der Überzeugung, dass ich auf einem guten Weg bin. Aber ich spüre auch, dass es von Tag zu Tag schwerer wird. Anhöhen relativ schnell erreicht zu haben, das ist die eine Sache. Aber jeden Tag ein Stück weiter zu kommen, das ist die wahre Herausforderung.
Die familiäre Herkunft ist natürlich belastend gewesen, keine Frage. Eine Zeitlang zog es mich sogar mehr zum Theater und zum Film. Aber spätestens seit ich die Sinfonien von Gustav Mahler gehört habe, mit etwa 15, 16 Jahren, war mir klar, dass ich Dirigent werden will.
Sinfoniekonzert der Staatskapelle: 8., 10.1., 20 Uhr, 9.1., 11 Uhr