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„Irritiert und fassungslos“ – Offener Brief von Prof. Ekkehard Klemm

Verehrte Frau Staatsministerin,
sehr geehrte Frau Professor v. Schorlemer,

bitte gestatten Sie, dass ich mich auf diesem Wege an Sie wende. Ich tue das in zweierlei Funktion: als Rektor der Dresdner Musikhochschule wie als Künstlerischer Leiter der Singakademie Dresden. Die Nachrichten, Gerüchte und Mutmaßungen über das Schicksal zweier Orchester, die mit uns ständig zusammenarbeiten, nötigen mich zu diesem Schritt an die Öffentlichkeit.

"Katastrophales Signal" (Foto: HL Boehme)

Es wäre aus Sicht der Musikhochschule, zahlreicher Dresdner Chöre sowie eines riesigen Publikums von Jung bis Alt ein Desaster, wenn die Existenz des Orchesters der Landesbühnen oder der Neuen Elbland Philharmonie zur Disposition gestellt würde. Um die Tragweite einer solchen Entscheidung zu verdeutlichen, darf ich darauf aufmerksam machen, dass mit beiden Ensembles sowohl die Musikhochschule als auch die Singakademie, darüber hinaus zahlreiche Chöre und Kantoreien der Region seit Jahrzehnten zusammenarbeiten. Eine riesige Zahl von Aufführungen findet jährlich statt. Vor dem Hintergrund der Planspiele bin ich mir nicht sicher, ob der sächsischen Landesregierung die Vielzahl dieser Aktivitäten bekannt sind, ob klar ist, welch einzigartige Struktur und Musiklandschaft hier zertrümmert würde, käme es zu den angekündigten Entscheidungen. (Eine Auswahl einiger Aktivitäten finden Sie im Anhang.)

Wir stehen irritiert und fassungslos vor den drohenden Einsparungen, Kürzungen und Fusionen. Einerseits werden Synergien mit Institutionen der Region gefordert, es werden praxisnahe Studiengänge an den Hochschulen verlangt, Entwicklungspläne darauf ausgerichtet, die Kulturinstitutionen und Ausbildungsinstitute werden zur Zusammenarbeit, Vernetzung und Entfaltung gemeinsamer Aktivitäten ermutigt. All dies hat im Raum Dresden und der gesamten sächsischen Region in vorbildlicher Weise stattgefunden – es findet bundesweit Beachtung.

Die Aktivitäten und Projekte zwischen der Hochschule und den Orchestern reduzierten sich bei einer Fusion um über die Hälfte bis auf beinahe 100%, da die erhöhte Arbeitsbelastung für Ausbildungsprojekte keinen Spielraum mehr bereithielte. Ich muss in aller gebotenen Deutlichkeit darauf hinweisen, dass ohne die vielfältigen Partnerprojekte der Ausbildungsauftrag unserer Hochschule nicht mehr erfüllt werden kann. All unsere Studienpläne, Prüfungsordnungen, Modulbeschreibungen neu eingerichteter Bachelor- und Masterstudiengänge rechnen mit der Existenz beider Orchester.

Die Projekte mit der Singakademie kämen völlig zum Erliegen. Durch kulturpolitisch höchst fragwürdige städtische Entscheidungen wie die Vergabe der ‚Zwinger-Festspiele‘ an subalterne Projekte wie die von D. Wedel geplanten Events sind langjährig erfolgreiche und seriöse Aufführungen der Landesbühnen und der Singakademie im Zwinger von vornherein obsolet geworden. Die Existenz eines der größten und leistungsfähigsten Laienchores in Sachsen, der einen nicht unerheblichen Teil seiner Konzerte durch gemeinsame Projekte mit den Landesbühnen bestreitet, steht damit zur Disposition – ein Fakt, der in der Diskussion bisher völlig unberücksichtigt blieb.

Ein katastrophales Signal geht von den befürchteten Einsparungen für die Musikausbildung insgesamt aus: Der Beruf der Musikerin oder des Musikers wird hinfort ein völlig unattraktiver sein, da er keine realistischen Chancen mehr bietet. Keinem sächsischen Elternhaus ist hinfort mehr zu erklären, worin der Sinn bestehen könnte, sein Kind den Beruf des Musikers ergreifen zu lassen, wenn in dieser Art Perspektiven des professionellen Musizierens zerstört werden. Der Platz zweier Briefseiten würde nicht ausreichen, um alle Studierenden und Absolventen aufzuzählen, die in Radebeul und Riesa ihre ersten Schritte als Künstler gegangen sind und heute in aller Welt für den kulturellen Reichtum Dresdens und seines Umlands werben.

Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass die Neue Elbland Philharmonie bereits 2 Fusionen hinter sich hat, jene mit dem ehemaligen Orchester der IG Wismut und jene mit dem Sinfonieorchester Pirna.

Ich ersuche Sie in größter Dringlichkeit, nach Lösungen zu suchen,
– die die Vielfalt der Musikkultur des Freistaates stabilisieren, statt sie zu kürzen,
– die eine praxisnahe Ausbildung unserer Studenten fördern, statt sie zu beschneiden,
– die gewachsene und neu profilierte Strukturen, die ausdrücklich von der sächsischen Landesregierung gefordert wurden, weiterentwickeln, statt sie abzubrechen,
– die die Zusammenarbeit mit profilierten Chören und Laienensembles im Freistaat erhalten und fördern,
– die die zahlreichen und fundierten Aktivitäten beider Ensembles im Bereich der Jugendarbeit, der Schüler-, Familien- und Kinderkonzerte als eine Säule kultureller und speziell musikalischer Basisarbeit in Sachsen ausbauen und erweitern, statt sie einzusparen,
– die einem musikbegeisterten Publikum, Studierenden, professionellen Musikern sowie Laienmusizierenden Visionen und Perspektiven aufzeigen, statt eine einzigartige Musiklandschaft in Frage zu stellen.
Ich mahne die Landesregierung in aufrichtiger Absicht und tiefer Sorge: Sie wollen nicht ernsthaft als die Regierung und Personen in die sächsische Geschichte eingehen, die als Erste eine weltweit einzigartige Musiklandschaft, eine beispiellose Vernetzung von Musikschaffenden, Auszubildenden und Laienmusikern zur Disposition stellen. Es gibt eine solche musikalische Vitalität nur an ganz wenigen Orten der Welt. Sie ist der Humus all unserer Spitzenensembles, der Staatskapelle, der Philharmonie, der Semperoper, des Kreuzchores, der Kapellknaben, des Europäischen Zentrums der Künste. Diese Vitalität ist nicht anders zu bezeichnen als ein Weltmusikerbe, das des besonderen Schutzes bedarf, weil es den eigentlichen Reichtum der Region Dresdens und Sachsens ausmacht. Die Orchester und Theater der Region sind integraler Bestandteil dieses Weltmusikerbes.

In der Hoffnung auf bessere Lösungen als auf jene, die gegenwärtig diskutiert werden und vertrauend auf Ihr persönliches Engagement grüße ich Sie
hochachtungsvoll

Prof.
Ekkehard Klemm
Rektor
Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden
Künstlerischer Leiter der Singakademie Dresden

 


Anhang

Übersicht ausgewählter Projekte der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber sowie der Singakademie Dresden mit dem Orchester der Landesbühnen Sachsen und der Neuen Elbland-Philharmonie:
Mit den Landesbühnen Sachsen haben in den letzten Jahren u.a. stattgefunden:
– der 3. Hochschulwettbewerb Dirigieren mit Finale und Preisträgerkonzert (2006)
– jährlich mindestens 10 Werkstatt-Proben für Dirigierstudent/innen
– jährlich Konzerte mit Absolventen der Instrumentalfächer sowie Absolventen der Dirigierklassen der Hochschule, seit diesem Jahr Konzertwiederholungen der Sinfoniekonzerte der Landesbühnen in der Hochschule unter Mitwirkung von Studenten (aktuell am 13.3. und 29.05.)
– jährlich mindestens 3 Aufführungen der Carmina Burana von Orff mit über 4000 Zuschauern in Rathen, Dresden und Meißen (Kooperation Landesbühnen – Singakademie)
– jährlich mehrere Aufführungen der 9. Sinfonie von Beethoven zum Jahreswechsel mit 2000-3000 Zuhörern (Kooperation Landesbühnen – Singakademie)
– jährlich mindestens 2-3 weitere konzeptionell höchst anspruchsvolle Konzerte mit der Singakademie Dresden, zuletzt u.a. mit Schumanns Faust-Szenen (2005), Janačeks Glagolitischer Messe, Szymanowskis Stabat mater (2005), Mendelssohns Elias und Paulus (2007 und 2010), Verdis Requiem (2008), Gounods Cäcilienmesse und Faurés Requiem (2009)
– mehrere wegweisende Aktivitäten mit Nachwuchskünstlern in den letzten Jahren, so vor allem Dirigierseminare mit dem Dirigentenforum des Deutschen Musikrates in den Jahren 2006 (mit den Requien von Mozart und Schumann) sowie 2009 (mit der Aufführung des Oratoriums Gilgamesch von Bohuslav Martinů)
Mit der Neuen Elblandphilharmonie haben in den letzten Jahren stattgefunden:
– jährlich Werkstattproben mit Kompositions- und Dirigierstudenten
– regelmäßige Konzerte mit dem Hochschulchor der HfM, zuletzt in den Jahren 2006, 2008 und 2010, u.a. mit Konzerten innerhalb von „Rettet Meißen jetzt“
– jährlich mindestens eine Konzertfolge von 6-7 Proben und 5 Konzerten in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik, 2007/08 mit einem Operettenprogramm, an dem 17 Sängerinnen und Sänger der Opernklasse sowie 10 Studierende der Dirigierklasse praktische Erfahrung sammeln konnten, 2009/10 das Projekt „young classic“ mit Konzerten in Riesa, Pirna, Zittau, Großenhain und Meißen mit 8 Instrumentalsolisten und 10 Dirigierstudenten, aktuell die Opernproduktion Wildschütz, zunächst mit 8 Vorstellungen im Kleinen Haus in Zusammenarbeit mit HfM und Staatsschauspiel, denen im Herbst mindestens 5 Vorstellungen in der Region folgen, bei denen die Hochschule Partner der Neuen Elbland Philharmonie ist und die Studierenden in die Abstecherorte des Orchesters fahren
– mehrere gemeinsame Projekte mit der Singakademie Dresden, zuletzt (2008) u.a. die Aufführung des Oratoriums Der Großinquisitor (nach Dostojewski) des in Dresden von den Nazis vertriebenen Komponisten Boris Blacher ( er lehrte 1938 an der Musikhochschule), demnächst ein Seminar mit dem Dirigentenforum des Deutschen Musikrates mit dem Oratorium Golgotha von Frank Martin (geplant 2012)