Nikolaj Znaider, wie schafft man es als Künstler, von der bloßen Reproduktion zu einer eigenen Stimme zu finden?
Bei vielen Künstlern ist das Geben und Nehmen in der Musik nicht vorhanden. Künstler haben sich eine "Interpretation" erarbeitet und so spielen sie es auch. Aber sie vergessen: Was das Orchester dazu sagt, die ganzen Gegenstimmen, der Dialog, das hat nur Bedeutung im Kontext mit dem, was da in der Solostimme passiert. Wenn man sich nicht auf diesen Dialog einlässt, wird die Musik steril. Man muss verstehen: Die Spannung geht hier weiter, die Geigen nehmen das auf, und so weiter. Aber wenn die Stimmung im Konzert eine besondere ist, muss die Stelle auch einmal anders gespielt werden als in der Probe! Das muss man erfühlen lernen.
Und jetzt komme ich zu Ihrer Frage: wir müssen die Kurve zwischen Theorie und Praxis kriegen. Natürlich lernen Geiger auch Musiktheorie. Aber an den Hochschulen hat das zu selten praktische Anwendung! Sie üben das Paganini-Konzert rauf und runter, fantastisch sauber und virtuos. Aber sie wissen nicht, was eine Durchführung ist, und was es bedeutet, wenn die Reprise versteckt kommt oder nicht in der richtigen Tonart ist. Und da haben wir eine Riesenherausforderung. Leider findet man seltener und seltener einen wiedererkennbaren Stil unter den Geigern. Man hört eine alte Aufnahme und weiß sofort: das ist Milstein, Menuhin oder Heifetz… Eigentlich seltsam, aber unsere sonst so individualisierte Zeit scheint solche Charaktere kaum noch hervorzubringen.
Um einen Wettbewerb zu gewinnen, muss man ästhetisch stromlinienförmig sein. Ansonsten finden ein paar Juroren die Interpretation zu abgefahren. Und im Endeffekt zählt meist die Durchschnittswertung. Und Wettbewerbe sind immer noch der beste Weg, um eine Solistenkarriere einzuschlagen.
Da ist was dran. Ich glaube, Sie haben recht.
Mit der „Nordic Music Academy“ haben Sie eine eigene Sommerschule gegründet und zehn Jahre geleitet. Können solche Engagements helfen, neue Interpretationswege abseits der Uniformität zu öffnen?
Unbedingt! Kammermusik ist vielleicht überhaupt d e r Weg. Da ist man gezwungen sich gegenseitig zuzuhören. Als Dirigent sage ich zu den Musikern: denkt das wie Kammermusik. Das ist natürlich etwas pauschal ausgedrückt, aber alle wissen gleich, was es bedeutet: Das Imitieren, das Nachfolgen, das Mitmachen: eben Kammermusik!
An den Hochschulen sagen die Studenten: lass mich mit Orchester in Ruhe. Das versaut mir die Technik.
Das Problem ist: an den Hochschulen wird alles separat unterrichtet. Okay, wir gehen mal zur Musiktheorievorlesung oder zur Orchesterprobe, aber eigentlich fummle ich gedanklich gerade am Wieniawski-Konzert. Es gibt aber gar keinen Konflikt zwischen Orchesterspiel und Solo! Es ist geradezu eine systemische Krankheit, dass Solo- und Orchesterspiel separat betrachtet werden.
Aber diejenigen, die jetzt unterrichten, stammen aus diesem System.
Es ist doch schon so schwer, auf der Geige einen einigermaßen anständigen Ton zu entwickeln, so dass man denkt, gar kein Platz mehr im Leben zu haben für die Oboenstimme im Orchester. „Daran kann ich grade nicht denken, ich muss gerade von der ersten in die vierte Lage kommen!“ Und nur bei den Leuten, die Kammermusik gespielt haben, spürt man: der denkt ein bisschen anders. Vielleicht ist die Antwort wirklich ein Studienschwerpunkt Kammermusik? Ich bin noch sehr jung, mit meiner eigenen Entwicklung beschäftigt. Aber ich möchte auch teilhaben an der Ausformung von Ausbildung. Wie bilden wir die nächsten Geiger aus? Alle üben doch nur die großen Konzerte.
Was würden Sie jungen Geigern denn stattdessen raten?
Erweitere deinen Horizont! Die gedanklichen Kreise, in denen wir uns befinden, müssen weiter und weiter werden. Es reicht nicht, die romantische Musik für Violine zu kennen. Man muss andere Zeiten, andere Stile kennen, Musik vor Mozart, nach Schönberg. Sich mit Literatur, mit Philosophie beschäftigen. Barenboim hat mich früh in diese Richtung geschickt. Oder Colin Davis: Ich habe ihn nie ohne Buch gesehen! Das hat ihn stimuliert, er hat neues gelernt und mir fesselnd davon erzählt. Diese intellektuelle Neugier ist das, wodurch man frisch bleiben kann.
Die Programmhefte ihrer Konzerte unterscheiden sich, was Ihre Biografie betrifft. Wo leben Sie zum Beispiel gerade?
Ich war lange unentschieden, wo ich leben soll. Ich habe Verwandte in Israel, das Wetter dort ist schön… Aber wenn man nur zwei Tage frei hat, ist die Reise dahin zu lang. Also ging ich nach Amerika. Aber ich bin in Kopenhagen geboren, meine Schwester ist da, meine Freundin ist da. Ich habe mich entschieden, dorthin umzuziehen. Dänemark ist ein sehr nettes, schönes Land, und so ruhig. Die Millionenstädte nehmen zu viel Energie aus mir raus. Ich brauche die Nähe zur Natur, um in mir diese schaffende Kraft zu finden.
Was steht demnächst im musikalischen Bereich an?
Ich muss so viel neues Repertoire lernen! Diese Spielzeit allein drei Mahler-Sinfonien, Beethoven habe ich zu großen Teilen hinter mir, jetzt kommt noch Bruckner, Zeitgenössisches… Und nun kommt noch die Oper hinzu. Ich schaue dabei, dass ich mein Niveau als Geiger nicht verliere. Nebenbei versuche ich viel zu lesen. Ob das Francis Scott Fitzgerald ist oder Dostojewski, das zu lesen macht mir Freude. Natürlich gibt es wenig Zeit außerhalb dieser Aktivitäten, aber die verbringe ich gerne mit Familie und Freunden. Ich wandere auch gerne. Im Sommer bin ich einen Monat in Frankreich: Colin Davis macht dort Titus, und ich habe ein kleines Häuschen gemietet, ich möchte in den Lavendelfeldern spazieren gehen, kochen, essen… Damit kann man viel Kraft wiederherstellen. Und schlafen ist wichtig. Nicht vergessen!