Musikalische Uraufführungen, so sie denn wirklich ungehörtes Material beinhalten, erschließen sich nur sehr selten beim ersten und einmaligen Hören. Sie verlangen nach Wiederholung, um Feinheiten nachlauschen zu können, Details sich zum Ganzen fügen zu lassen, das Ganze als Summe von Details wahrzunehmen. Aber kaum ein Veranstalter wagt das doppelte Risiko. Zeitgenössische Komponisten ebenso wie jene Teile des Publikums, denen nach neuer Musik verlangt, sind ja schon glücklich, wo der einmalige Mut dazu wenigstens regelmäßig zu finden ist.
Bei der Sächsischen Staatskapelle, zu deren Traditionen es gehört, auch als Uraufführungsorchester zu gelten, wurde zu diesem Zweck die wunderbare Position des Capell-Compositeurs geschaffen. Eine sinnvolle Wiederbelebung, die bis auf Heinrich Schütz zurückzuverfolgen ist. Für die laufende Spielzeit ist dieses Amt dem österreichischen Komponisten Johannes Maria Staud angetragen worden, ein Engagement, das noch auf Ex-GMD Fabio Luisi zurückgeht.
Und dieser 1974 in Innsbruck geborene Compositeur hat aus der Tugend eine Not-Wendigkeit gemacht und sein neuestes Werk, das am Sonntag im 10. Symphoniekonzert erstmals erklang, „Tondo“ genannt und damit quasi vorgeschrieben, dass es als „runde Sache“ wahrzunehmen ist. Dieses Preludio für Orchester hat nämlich kein Ende, kann somit beliebig oft wiederholt werden. In der von Gastdirigent Christoph Eschenbach geleiteten Interpretation der ersten Aufführung schloss sich denn auch nach gut zehn Minuten Spieldauer bündig der Anfang wieder an. „Tondo“ heißt im Italienischen „rund“ und ließ Hoffnung keimen, das gewaltig besetzte Schlag-Werk mindestens noch einmal komplett zu hören. Aber weit gefehlt, noch bevor das Instrumentarium sich erneut entfalten konnte und über die Auftaktpassagen hinweg kam, wurde ein kurzer Kulminationspunkt als Ausstieg gewählt. Noch kürzer wäre ein Affront gewesen. Was für ein Widerspruch, in dieser Chance die Chance zu vertun!
"Tondo“ ist ein in sich geschlossenes, übergangsloses Werk aus vier Teilen, es lebt von griffigen, auffächernden Streicherakkorden, in die pikantes Gebläse und pointierte Schlagkunst einfahren dürfen, um als Gesamteindruck ein unablässiges Pulsieren entstehen zu lassen. Gut vorstellbar, dieses italienisch angehauchte Stück als Gedankenerzählung zu deuten. Nach seinem gelungenen Dresden-Debüt darf es sich nun schon bald in Wien, Luxemburg, Paris, Brüssel, Cardiff und Birmingham beweisen.
Dorthin gehen – im Wechsel mit Robert Schumanns d-Moll-Violinkonzert, dessen Solopart Gidon Kremer am 2. und 3. Mai in der Semperoper spielen wird – auch die 1. Sinfonie c-Moll von Johannes Brahms sowie das Violoncello-Konzert a-Moll von Robert Schumann. Mit diesem Programm wurde das ausverkaufte Haus am Sonntag beschenkt, wobei der Cellist Leonard Elschenbroich mit seinem teils harschen Strich durchaus irritierte. Da ihm dennoch eine Zugabe abverlangt wurde, konnte er sein Debüt an der Staatskapelle mit dem Schlusssatz aus Paul Hindemiths Cellosonate von 1922 höchst überzeugend krönen.
Nach der Pause dann die Erste von Brahms. Oft gehört, meistens komplett, nur im nicht rechtzeitig abservierten Dudel-Klassik-Radio auch mal nur satzweise. Aber nie, nie so gehört wie in dieser Kapell-Darbietung unter dem gestrengen Maestro Eschenbach. Bombastisch brachial tönen die langen Eingangshiebe der Pauke und geben sowohl das Tempo als auch die Stimmung vor. Hier wird die Struktur aus dem Fels gehauen, an dem sich auch Brahms beim weit mehr als ein Dutzend Jahre dauernden Komponieren rieb. Noch die kleinste Unebenheit auch der Mittelsätze darf schillern und glänzen, die Lyrismen stehen im schlüssigen Gegensatz zur Dramatik, von der diese gravitätische Sinfonie beherrscht ist. Was aber allzu oft nur als Behauptung anklingt, hier wird es umgesetzt und durchgeführt.
Christoph Eschenbach, seit vielen Jahren regelmäßiger Gast der Sächsischen Staatskapelle, erwies sich einmal mehr als genial fordernder Könner. Doch auch, wer von der Leistungsfähigkeit des Orchesters eigentlich längst überzeugt ist, durfte bei diesem herausragenden Brahms noch einmal ganz kräftig staunen. Die europäischen Konzertpodien dürfen sich freuen.
10. Symphoniekonzert am 2. und 3. Mai, je 20 Uhr:
Johannes Maria Staud – „Tondo“ Preludio für Orchester
Robert Schumann – Violinkonzert d-Moll op. posth. (Solist Gidon Kremer)
Johannes Brahms – Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68