Als enger Weggefährte und authentischer Interpret der Werke Dmitri Schostakowitschs hat Kurt Sanderling Musikgeschichte geschrieben. Letzten Freitag wurde der große Dirigent vom Vorstand des Vereins „Schostakowitsch in Gohrisch“ mit dem „Internationalen Schostakowitsch Preis Gohrisch“ ausgezeichnet. Bei guter Gesundheit und sichtlich erfreut empfing der 98-Jährige die Gäste aus Dresden und Gohrisch in seinem Haus in Berlin-Pankow.
Dabei erinnerte er sich an seinen Besuch in Gohrisch 1972: „In Gohrisch habe ich Schostakowitsch zum letzten Mal gesehen. Er erzählte mir damals Dinge aus seinem Leben, die ich so wenige Jahre später in den von Solomon Volkow veröffentlichten Memoiren wiederfand.“
In Gohrisch, einem kleinen Luftkurort inmitten der Sächsischen Schweiz, hielt sich Dmitri Schostakowitsch 1960 und 1972 jeweils für mehrere Tage im Gästehaus des Ministerrates der DDR auf. Bei seinem ersten Besuch komponierte er dort vom 12. bis 14. Juli 1960 mit dem achten Streichquartett op. 110 eines seiner bedeutendsten und persönlichsten Werke. Kurt Sanderling lernte Schostakowitsch während des Zweiten Weltkrieges in Sibirien kennen. Als Chefdirigent der Leningrader Philharmonie (1942-1960, neben Jewgeni Mrawinski) sowie später des Berliner Sinfonie-Orchesters (1960-1977) und der Staatskapelle Dresden (1964-1967) war er einer der führenden Interpreten der Werke des russischen Komponisten.
Vor allem in Berlin und in Dresden klärte Sanderling die Musiker bei den Proben durch Andeutungen über die Hintergründe und die Doppelbödigkeit vieler Werke Schostakowitschs auf. Dabei stieß er erwartungsgemäß auch auf Widerstände. „Ich erinnere mich, wie ich den Gesangszyklus ‚Aus jüdischer Volkspoesie‘ zum ersten Mal in Berlin dirigierte, anschließend auch in Dresden. Die Klavierfassung des Werkes galt in der Sowjetunion als verfemt, und Schostakowitsch vertraute mir nun die Uraufführung der Orchesterfassung an: eine Schostakowitsch-Uraufführung eines solchen Werkes, noch dazu außerhalb der Sowjetunion! Dies wäre von sowjetischer Seite nie geduldet worden. Die Aufführung fand also in Ost-Berlin statt, wurde aber nicht als Uraufführung bezeichnet.“ Dies sei der Grund, weshalb die Uraufführung in vielen Nachschlagewerken bis heute falsch vermerkt sei. Nach dem Zweiten Weltkrieg dirigierte Sanderling mit der fünften Symphonie die erste Aufführung eines Schostakowitsch-Werkes nach der zweiten Verurteilung des Komponisten 1948 und trug damit maßgeblich zur Rehabilitierung Schostakowitschs in der Sowjetunion bei, was dieser ihm nie vergaß.
All dies kam Sanderling, der 2002 sein letztes Konzert dirigierte und im kommenden Jahr seinen 100. Geburtstag feiern wird (19. September 2012), bei der jetzigen Überreichung des Preises in Anwesenheit seiner Frau Barbara und seiner langjährigen Agentin Monika Ott in den Sinn. Mit einem Lächeln und der für ihn typischen Bescheidenheit nahm er den Preis entgegen: „Ich will nicht sagen, dass ich diesen Preis nicht verdient habe. Ich habe ihn wohl verdient für meinen unbeirrten Einsatz für Schostakowitsch nach meiner Rückkehr in die DDR. Deshalb nehme ich den Preis nicht ohne Rührung an. Aber ich bin mir klar, dass meine Verdienste eher objektiver Natur waren, nicht subjektiver. Ich habe das getan, was mir am Herzen lag, und das darf man doch nicht als Verdienst bezeichnen.“
Kurt Sanderling ist den Internationalen Schostakowitsch Tagen Gohrisch, die im September 2010 zum ersten Mal stattfanden und von seinem ehemaligen Orchester, der Sächsischen Staatskapelle Dresden, ausgerichtet werden, seit Anbeginn als Schirmherr neben Ministerpräsident Stanislaw Tillich eng verbunden. Es ist das derzeit einzige Schostakowitsch-Festival weltweit, das alljährlich ausgetragen wird. 2011 findet das Festival vom 16. bis 18. September zum zweiten Mal statt und wird wieder viele namhafte Künstler in den Luftkurort führen. Das konkrete Programm wird in wenigen Tagen vorgestellt und bereits mit großer Spannung erwartet.