„Gott! Welch Dunkel hier“, eröffnet Tenor Hans Hopf als Florestan und setzt fort mit der berühmten Kellerklage „Wahrheit wagt ich kühn zu sagen“ aus Beethovens Oper „Fidelio“. Ausgerechnet Mozarts Figaro antwortet darauf mit dem ariosen Imperativ „Ach öffnet Eure Augen“, gesungen von Bassbariton Werner Faulhaber. „Endlich nahet sich die Stunde“ setzt Elfride Trötschel als „Figaro“-Susanne fort – und meint damit zwar nicht die Stunde Null, die im Mai 1945 an der Semperoper wie in ganz Dresden und ebenso in Deutschland wie in weiten Teilen Europas einen Neubeginn eingeleitet hat. Doch wer die Namen dieser Interpreten noch kennt, wird wissen, dass es hier nur um historische Archivaufnahmen aus jenen hoffnungsvollen Anfangsjahren gehen kann.
In Fortsetzung der inzwischen auf 30 Ausgaben angewachsenen „Edition Staatskapelle“ hat das Label Profil von Günter Hänssler just zu den Festtagen „25 Jahre Neue Semperoper“ eine eigene CD-/DVD-Reihe Semperoper Edition gestartet, die noch in der laufenden Saison im bekannten Erscheinungsbild der Staatsoper erweitert werden soll und sich in ihrer ersten Nummer eben dieser Null-Stunde widmet. Soeben wurde diese enorm arbeitsintensiv zusammengestellte Edition mit einem Platz auf der aktuellen Bestenliste der Deutschen Schallplattenkritik in der Rubrik „Historische Aufnahmen“ bedacht. Lohn für unbeschreibliche Mühen.
Das privilegierte Orchester des Gründungsjahrgangs 1548 hat sich ja rechtzeitig nach Bad Brambach bzw. Bad Elster zurückziehen dürfen, im Frühjahr 1945 nun stand es ziemlich komplett vor einem Neubeginn. Erst auf der Glacisstraße in der damaligen Tonhalle, bald im einstigen Kurhaus Bühlau, wo – „Gott! Welch Dunkel hier“ – im September 1945 mit einem konzertanten „Fidelio“ unter Joseph Keilberth wieder begonnen wurde, an die einstigen Glanzleistungen anzuknüpfen. Die Menschen pilgerten an den Ullersdorfer Platz (wer würde das heute noch auf sich nehmen?) und stillten dort ihren Hunger auf Kunst und Kultur.
Hohes Niveau und heutige Technik
Auf welch hohem Niveau diesem Bedürfnis damals nachgegangen ist, davon legt die neue Veröffentlichung eindrucksvoll Zeugnis ab. Namen wie Christel Goltz, Helena Rott, Elfriede Weidlich und Gottlob Frick sowie Dirigenten von Rudolf Kempe bis Gerhard Pflüger, Kurt Striegler und Gerhart Wiesenhütter sind auf den Mitschnitten von 1945 bis 1950 verzeichnet; wer mit ihnen etwas anzufangen weiß, wird sich diese Edition sowieso und aus alter Anhänglichkeit besorgen; wer nicht, sollte es gerade deswegen tun, um Historie hautnah zu erfahren.
Was da aus Rundfunkarchiven geborgen und mit heutiger Technik auf einen akustisch bestmöglichen Stand gebracht worden ist, weist die seinerzeitige Orchester- und Stimmkultur aus. Gesungen wurde natürlich auf Deutsch. Dennoch ist eindrucksvoll, was da auch aus Giordano, Puccini, Rossini und Verdi hervorgezaubert worden ist. Ausnahmslos exzellente Sangeskunst ist auf den drei CDs nachzuerleben. Nicht wenige Aufnahmen wurden noch vom Sender Dresden des MDR im Steinsaal des Deutschen Hygiene-Museums produziert, einige entstanden auch im Funkhaus der Leipziger Springerstraße beim Sender Leipzig mit dem dortigen Rundfunk-Sinfonieorchester.
Die neue Edition, der unbedingt breites Interesse sowie viele Fortsetzungen zu wünschen sind, macht neben Musikgeschichte auch mit anderer Historie vertraut. Dank eines gut 240(!)-seitigen Booklets (deutsch/englisch) werden Neubeginn, damalige Aufnahmebedingungen und viele persönliche Künstlerschicksale nachvollziehbar. Erinnerungen der Persönlichen Referentin Elfriede Döhnert, des Ausstattungsleiters Karl von Appen, des Spielleiters Heinz Arnold, des Dramaturgen Günter Hauswald – mehr wert als so manches Geschichtsbuch. Stadtgeschichtlich interessant dürften nicht nur die dargestellten Zerstörungen – im Kontrast zur einstigen Pracht – sowie die ersten Aufbauleistungen sein, sondern selbst solche Details wie das eines „Funkhauses“ am Großen Garten. Dort, in der Villa Renner, Tiergartenstraße 36, hatten später jahrelang die Dresdner Musikfestspiele ihr Domizil. Auch technische Informationen etwa über Produktionsmöglichkeiten, Bandmaterial und die Sendeanlage „Wilder Mann“ sind informativ nicht nur für jene, die damals noch mit dabeigewesen sind.
Sentimental und höchst kultiviert
Unbedingt sehenswert ist das DVD-Material der Hänssler-Edition. Was einst Gerhart Hauptmann auf den Punkt gebracht hat: „Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens.“ – hier wird es erfahrbar. Nachgeborene mögen staunend erstarren angesichts des unbedingten Willens zum künstlerischen Neuanfang. Instrumententransporte etwa, Dutzende Kilometer auf Karren durch die erstorbene Stadt! Ein früher Dokumentarfilm der DEFA gibt Einblicke historischer Zeugenschaft preis, Persönlichkeiten wie Christel Goltz, Joseph Keilberth und Lisa Otto erinnern sich eindrücklich, sentimental und höchst kultiviert; ja, diese Edition ist sowohl Zeitzeugnis als auch Mahnung. Aus gegebenem Anlass! Fortsetzung folgt.
„Gott! Welch Dunkel hier …“
Die Stunde Null. Dresdner Opernszenen in ersten Rundfunkaufnahmen nach 1945
Edition Günter Hänssler bei Profil Medien GmbH PH 10007
Gesamtspieldauer 3 CDs ca. 230 Min. und 1 DVD 95 Min.
Semperoper Edition Vol. 1
Der zweite Band der Edition (CD/DVD) stellt die »Fidelio« Aufführung anlässlich der Eröffnung des Großen Hauses der Staatstheater im Jahr 1948 vor (hier schon mal ein Trailer). Eine ausführliche Besprechung folgt demnächst auf »Musik in Dresden«.