Drei Dresdner Rezensenten – Lea Muth, Michael Ernst und Martin Morgenstern – haben an einem langen audiophilen Adventsabend gemeinsam tief ins Schatzkästlein der denkwürdigsten Aufnahmen der letzten Monate gegriffen. Auf »Musik in Dresden« empfehlen sie manches warm, warnen jedoch auch vor einigen vergifteten Perlen. Wer also noch auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken ist, lese weiter und verhindere so vielleicht das Schlimmste…
1. Heinrich Schütz – Musikalische Exequien (Dresdner Kammerchor)
Auch wenn es hier um das Zelebrieren vieler letzter Abschiede geht, kann diese SACD als Geschenk empfohlen werden. Die neueste Aufnahme des Dresdner Kammerchors passt in die dunkle Jahreszeit: Trauermotetten im Gedenken an große Geister wie Johann Hermann Schein, aber auch an Anna Brehme, die Frau des Dresdner Hofbibliothekars, feiert der Dresdner Kammerchor mit hochkarätigen Solisten in der angemessenen Solennität, aber ohne übermäßig "traurige Dunst, der Tränen Brunst" (Schütz). Hans-Christoph Rademann hat sich mit der ambitionierten Schütz-Gesamteinspielung – von »Musik in Dresden« als Medienpartner begleitet – um die Revitalisierung von Schütz verdient gemacht. Wir freuen uns auf ein Wiederhören dieser Werke in der Schütz-Kapelle.
2. Kreuzchorvespern: Geistliche Musik in der Zeit der Trauer und Zuversicht
Quer durchs Kirchenjahr sang sich der Knabenchor mit der CD-Reihe "Kreuzchorvespern", reiste musikalische vom Mittelalter in die Moderne. Die vierte und letzte Scheibe vereint Schütz mit Spohr, Mendelssohn mit Bach. Ratlos macht der künstlerische Interpretationsmischmasch. Da ist einerseits das Dilemma einer bisweilen schmerzlich unsauberen Intonation, andererseits klingt vieles bei gewollter Emphase am Ende doch zu geleckt. So richtig anfreunden konnten wir uns mit der CD "Herr, wenn ich nur dich habe" nicht.
3. Jan Vogler: "Virtuos" / "The Cellist" / Haydn-Konzerte
Vom täglich Brot jedes ernsthaften Cellisten, den Bachschen Solosuiten, hat Jan Vogler auf die limitierte CD "Virtuos" die erste und dritte Suite gepackt. Windig von Ariel gepeitscht, sausen die Sätze viel zu schnell vorüber. Keiner weiß, wie Vibrato zu Bachs Zeiten geklungen haben könnte, sagt Jan Vogler, und lässt es deswegen gleich weg. Auch hier Fragen nach der Intonation. Interessant der Vergleich zum klingenden Portrait "Jan Vogler – The Cellist", das vor zwei Jahren bei edel erschien. 1997 präsentierte Vogler das bekannte G-Dur-Präludium verspielt, variierte die Binnentempi lebendig, die Musik schwingt und pulsiert; herrlich sanglich auch die Haydn-Konzerte (mit den Virtuosi Saxoniae unter Güttler). Haben wir für Haydn noch die Daumen gehoben, legen wir bei der neuen Einspielung doch die Stirn etwas in Falten.
4. Daniel Behle: Schumann Dichterliebe u.a.
Sanft streichelt der Tenor die Kammermusik; aber dem Kunstlied frönt er eben recht künstlich. Wenn er grollt, grollt er vornehm, vielleicht etwas zu reflektiert, da hätte man sich etwas mehr Innigkeit gewünscht. Aber er kann auch anders: gemeinsam mit dem selbstbewusst und höchst charakteristisch begleitenden Sveinung Bjelland lässt Behle die "Forelle" durchs Bächlein flitzen. Dieser Tage ist der Sänger in der Frauenkirche als Evangelist in Bachs Weihnachtsoratorium zu hören, 2014 singt er erstmals in der Semperoper.
5. Ottorino Respighi: Concerto in modo misolino (Orchester der Landesbühnen Radebeul)
Respekt zollen wir dem Orchester der Landesbühnen für den Verdienst, ein totales Ausnahmewerk anzugehen. Aber Ottorino Respighis "Concerto in modo misolidio" (1925) hätte eben auch eine exemplarische Einspielung verdient! Umso ärgerlicher, wenn die CD-Aufnahme – aus Zeit- oder Kostengründen? – im Konzertsaal der Musikhochschule (Produzent und Toningenieur: Wolf-Peter Bley) keinen vollendeten Eindruck hinterlässt. Auf dem langweilig layouteten Cover ist das "Staatsorchester der Sächsische [sic!] Landesbühnen" angekündigt, und was dann ins Ohr dringt, turnt ab. Die Mikrofonierung ist grauslich, das Orchester klumpt und mulmt, ein schönes Cellosolo klingt meilenweit entfernt.
6. Mozart Requiem – Münchner Philharmoniker (Christian Thielemann)
Thielemanns allererste Mozart-Einspielung gehört auf den Gabentisch aller Staatskapell-Abonnenten, die etwas mehr über die Vorgeschichte des zukünftigen Pultmeisters erfahren wollen. Die Sängerin Sibylla Rubens hat Thielemann gleich auch für das Weihnachtsoratorium in der Frauenkirche verpflichtet. Getragen klingt das Requiem, aber es wird fließend ausmusiziert: nichts stockt, nichts reißt ab. Gut! Wenn man sich schon zu Grabe tragen lassen muss, dann mit solcher Musik!
7. Brahms Klavierkonzert Nr. 1 (Maurizio Pollini, Sächsische Staatskapelle Dresden)
Eine legendäre Wiederbegegnung der Staatskapelle mit dem Pianisten-Altmeister. Die Aufnahme atmet trotz aller fantastisch lyrischen Sentenzen, das muss man eingestehen, die große Meisterschaft jenseits des pianistischen Zenits. Ein Anfänger von heute dürfte sich diese Stolperer am Steinway nicht leisten. Die Staatskapelle dagegen glänzt und funkelt, aber Pollinis Läufe wirken im dritten Satz erschöpft, die kleinen Verzierungen verwischt; das Thema zerfällt immer mehr.
8. Franz Liszt: Faust-Symphonie (Sächsische Staatskapelle Dresden, Christian Thielemann)
Der DVD-Mitschnitt der Faust-Symphonie von Franz Liszt erfreut durch lebendige, klug gesetzte Bildschnitte. Vorfreude ist ja überhaupt die schönste Freude: der Mitschnitt vom Besuch des künftigen, in der Stadt künstlerisch längst etablierten Staatskapell-Chefdirigenten im Liszt-Jahr lässt an einigen Stellen wagnersche Züge nicht verheimlichen. Er verrät einmal mehr: sein Repertoire ist tatsächlich gar nicht so schmal.
9. Peter Rösel – Villa Koerner – Kammermusik von Theodor Fürchtegott Kirchner
Eine echte Ausgrabung. Theodor Fürchtegott Kirchner, der "Klavier-Miniaturist", war ein Freund Schumanns und Brahms‘, fast tausend Charakterstücke hat er geschrieben. Rösel und das Robert-Schumann-Quartett musizieren ihn schön forsch, die Entdeckung sind die Stücke unbedingt wert. Rösel vereint Präzision mit Tanz, ohne den virtuosen Techniker allzusehr in den Vordergrund zu rücken.
10. Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 6 (Hartmut Haenchen, La Monnaie Symphony Orchestra)
Eine Live-Aufnahme, die musikalisch bis zur Perfektion vollendet scheint. Der Dresdner Dirigent gilt auch anderswo viel, vielleicht noch mehr als zuhaus. Dass er mit einem international bis vor kurzem weitgehend unbekannten Orchester ein solches Ausnahmeresultat erzielt, mag beispielhaft für die Disziplin und Gründlichkeit seines Arbeitens stehen. Mahler (den Haenchen im Beiheft fantasievoll zu Wort kommen lässt) hätte seine Freude gehabt.
11. Ludwig Güttler: Festliche Klänge aus Dresden (4CDs)
Unser Vorschlag an Stiftung Warentest für die Mogelpackung des Jahres 2011. Auf dem neu layouteten Pappcover, das die Frauenkirche ziert, sind die Jahreszahlen der enthaltenen Aufnahmen (sämtlich in der Lukaskirche entstanden) wohlweislich nicht enthalten. Die früheste datiert auf 1984, selbst nach der allerletzten aus dieser Sammlung sollte es noch mehrere Jahre dauern, bis die wiedererrichtete Frauenkirche überhaupt fertig werden würde. Allesamt stammen sie aus der Hochzeit von Güttlers Bedeutungshuberei. Der merkantile Ansatz dieser Neuauflage ist nur zu durchschaubar. Musikalisch gilt: kennste eine, kennste alle.
12. Elin Kolev
Eine Debüt-CD. Der junge Zwickauer Geiger ist längst in die Falle getappt, der er eigentlich entgehen wollte: der des einer schwülstig in Richtung Charts gebürsteten Mainstream-Klassik. Mit Vivaldis "Vier Jahreszeiten" (enthalten ist lediglich das Presto aus dem "Sommer") schielt er auf die Nigel-Kennedy-Erbschaft; bei John Williams‘ Schindlers-Liste-Thema quetscht man schnell ein gerührtes Tränchen ab. Da passt es doch, dass Kolev bereits durchs Fernsehen tingelt, bei TV Total oder der "Ein Herz für Kinder Spendengala" zu Gast war. Schwiegermütter mit moderatem Musikgeschmack hätten sicher trotzdem ihre Gabentisch-Freude an der CD. Hoffentlich haben sie nicht diesen Text gelesen.
13. Maria Markesini – Kosmo
Die Entdeckung der diesjährigen Dresdner Jazztage: eine Frau mit unglaublicher Bühnenpräsenz. Ihr eigentliches Fach ist das Klavier; nach einer Armverletzung bot sie dem Publikum an, etwas Jazz zu singen – und dabei blieb sie. Markesini singt ungezwungen ihre Coverversionen; die meisten geraten sehr entspannt und ruhig. Sie ist eben überzeugt von dem, was sie tut; das macht sie authentisch. Ihr rothaariges Lächeln hört man durch die ganze CD blitzen.
14. Johann Strauss – Der Carneval in Rom (Staatsoperette Dresden, Ernst Theis)
Schon der Titelsong klingt so herrlich schmissig – da hätten wir uns gewünscht, die Mitwirkenden auch zu sehen. Leider ist die Leubener Produktion des "Carnevals in Rom" nur auf CD und nicht auf DVD erhalten. Die Strauss-Entdeckungen – das ist ein Schwerpunkt, der vielleicht als größte Leistung aus der Ernst-Theis-Zeit im Gedächtnis bleiben wird. Die Musik ist keinesfalls "0815-Strauss", hier gibt es unheimlich viel zu entdecken. Wie gesagt – wir hätten uns gewünscht …
15. Edition Semperoper – Ausgabe 1
In Fortsetzung der inzwischen auf 30 Ausgaben angewachsenen „Edition Staatskapelle“ hatte das Label Profil von Günter Hänssler zu den Jubiläums-Festtagen „25 Jahre Neue Semperoper“ eine eigene CD-/DVD-Reihe mit dem Titel "Semperoper Edition" gestartet. Die erste Ausgabe ist der "Stunde Null" gewidmet. Namen wie Christel Goltz, Helena Rott, Elfriede Weidlich und Gottlob Frick sowie Dirigenten von Rudolf Kempe bis Gerhard Pflüger, Kurt Striegler und Gerhart Wiesenhütter sind auf den Mitschnitten von 1945 bis 1950 verzeichnet; wer mit ihnen etwas anzufangen weiß, wird sich diese Edition sowieso und aus alter Anhänglichkeit besorgen; wer nicht, sollte es gerade deswegen tun, um Historie hautnah zu erfahren.
16. Und ma-hacht u-huns frei. (Weihnachtsoratorium + Begleit-CD)
Hört man Ludwig Güttler und Peter Gülke auf der Begleit-CD der Virtuosi-Saxoniae-Einspielung aus dem Jahr 1995 über Kontrafakturen, die Durchdringung musikalischer Ebenen, über Parodieverfahren und Unabschließbarkeit fachsimpeln, könnte man meinen: Die Krippe stand in Sachsen! Die Interpretation mit Concentus Vocalis Wien, Christiane Oelze, Annette Markert, Hans-Peer Blochwitz und Oliver Widmer ist grandios. Aber mit diesen oft unfreiwillig an Loriot erinnernden Erläuterungen wird die Kraft des Werks einfach unterschätzt.
17. Thielemann Beethoven DVDs
Zum Jahresende darf die 9. Sinfonie eigentlich nicht fehlen; und so schließen wir unsere kleine Rundreise mit einer uneingeschränkten Empfehlung ab. Der inzwischen schon recht greise Kritikerpapst Joachim Kaiser hat das ja schon richtig erkannt: wer die Beethoven Sinfonien einspielt, schreibt damit sein Testament für die nächsten zehn, zwanzig Jahre, der will sicher nichts ganz verrücktes machen; "und dann sind die Platten oft ein bisschen langweilig." Nicht ein Sekündchen Langeweile kommt dagegen während der neun DVDs umfassenden Beethoven-Sause Thielemanns mit den Wiener Philharmonikern auf. In kurzweiligen Begleit-DVDs schwatzen Thielemann und Kaiser über die Werke. Einziges Wermutströpfchen: Insgesamt kosten die 9 DVDs mehr als 120 Euro. Da wartet mancher doch lieber geduldig die TV-Übertragungen in 3sat ab.