Jenin, eine Stadt im Norden des Westjordanlandes, etwa so groß wie Radebeul. Lange galt sie als Hochburg der Al-Aqsa-Brigaden; „von fünfzehn Selbstmordattentätern kommen mindestens zehn aus Jenin,“ so schilderte es einst ein ARD-Korrespondent. 2005 passiert hier ein schreckliches Missverständnis: ein israelischer Soldat erschießt ein Kind, das mit einer Wasserpistole gespielt hat, im Glauben, es habe sich um eine Waffe gehandelt. Ein deutscher Dokumentarfilmer begleitet zwei Jahre später den Vater des Kindes nach Israel; denn Ismael Khatib, Widerstandskämpfer aus dem palästinensischen Flüchtlingslager von Jenin, hat die Organe seines Sohnes israelischen Kindern gespendet…
Marcus Vetter, den Regisseur des Films „Das Herz von Jenin“, trieb von nun an der Gedanke um: warum nicht ein dauerhaftes, sichtbares Zeichen der Versöhnung setzen, warum nicht seinen Film in Jenin selbst zeigen? Kinovorführungen gab es seit Ausbruch der ersten Intifada in der Stadt nicht mehr. Das alte Kino-Gebäude jedoch stand noch. Und Marcus Vetter und Ismael Khatib nahmen sich vor, es wieder aufzubauen und „Heart of Jenin“ dort zu zeigen.
Gegen viele – auch palästinensische! – Widerstände fand diese Vorführung letzten Sommer statt. Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker, und sein Produzentenkollege Ben Deisz waren vor Ort dabei. Vetter hatte die Dresdner gebeten, die von dem iranischen Komponisten und Kamancheh-Spieler Kayhan Kalhor komponierte Filmmusik für seinen neuen Dokumentarfilm „Cinema Jenin“, der den Wiederaufbau des desolaten Kinos schildert, einzuspielen und später auch live zum Film zu spielen. Auch in Jenin.
In der Folgezeit gab es emotionale Hochs, aber auch organisatorische Tiefschläge. „Es war beeindruckend zu sehen, mit welcher Freude und mit welchem Elan die palästinensischen und die deutschen Partner miteinander gearbeitet haben,“ sagt Markus Rindt. Den Mitstreitern des Wiederaufbau-Projekts schlug jedoch auch einiges Misstrauen entgegen. Sollte hier etwa in einem noch immer schwelenden Krisengebiet eine nicht existierende Normalität vorgespielt, gar eine Annäherung an Israel in die Diskussion gebracht werden? Plötzlich kursierte ein Brief, der unmissverständliche Drohungen gegen ausländische Kulturschaffende enthielt. Die Idee, mit israelischen und palästinensischen Musikern gemeinsam zu musizieren, musste fallengelassen werden. Auch der Plan, die Dresdner Sinfoniker in Jenin auftreten zu lassen, wurde erst einmal beiseite gelegt.
Und doch wollen die am Projekt Beteiligten die ursprüngliche Idee, auf kulturellem Wege Versöhnungen anzustoßen, noch nicht aufgeben. Zur Eröffnung des „Tonlagen“-Festivals in Hellerau findet am 1. Oktober unter der Leitung des Dirigenten Andrea Molino die Welt-Uraufführung von Kayhan Kalhors „Cinema Jenin – A Symphony“ statt. Musiker aus dem Iran, den Vereinigten Staaten, aus dem Westjordanland und aus Ägypten übernehmen Soloparts. Begleitend zur Musik werden Szenen aus dem gerade entstehenden Dokumentarfilm „Cinema Jenin“ gezeigt. Zwei Stunden vorher ist der inzwischen mit zahlreichen Preisen bedachte Film „Das Herz von Jenin“ im Studio Ost des Festspielhauses zu sehen. Und wenn alles gutgeht, werden die Musiker nächstes Jahr gemeinsam in die Region fahren: nach Ramallah wollen sie, nach Haifa und schließlich nach Jerusalem.
Die Uraufführung ist der Auftakt für die dritte, wiederum thematisch und stilistisch sehr reichhaltige Ausgabe von TONLAGEN, dem Dresdner Festival der zeitgenössischen Musik am Zentrum der Künste in Hellerau. Ein Schwerpunkt des Festivals liegt auf Musik des in New York lebenden Komponisten Steve Reich, der in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag feiert. In Hellerau wird er übrigens auch als Musiker zu Gast sein: Reich wird an einer Aufführung seiner „Music for 18 Musicians“ mitwirken, die in den vergangenen dreißig Jahren zum Klassiker geworden ist. Im selben Konzert erfolgt die deutsche Erstaufführung des „Double Sextet“. Das Festival endet mit der Konferenzoper „Switch on“; ein augenzwinkernder Cliffhanger zur vierten Ausgabe…
Der Artikel ist in PluSZ am 29. September erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.