"Berührt – geführt": Wer eine Figur anrührt, muss sie bewegen, muss etwas mit ihr anstellen, das Spiel voranbringen. Dabei eine Strategie zu haben, hilft. Nach dem Erfolg mit einer Henze-Oper in der letzten Spielzeit hoffte die Semperoper-Intendantin bei der Wiedereinladung des Inszenierungsteams wohl auf einen weiteren Erfolg. Herausgekommen ist Langeweile, aufgesext mit ein bisschen hilfloser Provokation.
Sängerisch ist die erste Premiere der Spielzeit dagegen wirklich glorios. Die Riege der Hauptdarsteller schmeichelt den Ohren: Wookyung Kim, von 2003-2007 Solist am Dresdner Haus und seitdem an der Met, in London, Rom und Salzburg engagiert, singt den Riccardo konzentriert-bescheiden, mit wohl dosierten dynamischen Ausbrüchen auf höchstem Niveau. Leidenschaftlicher, etwas unberechenbarer das ehemalige Paar Amelia (Marjorie Owens) und Renato (Marco Vratogna), die sich im Laufe des Abends beide steigern. Mindestens einen Oscar für die beste Nebenrolle ersang sich Carolina Ullrich mit mal verschmitzem, mal messerscharfem Zwitscherton. Der Chor ist von Pablo Assante auf Schnelligkeit und Durchschlagkraft getrimmt und bleibt doch charakterlich so wandelbar, dass auch leise und bedrückende Passagen beängstigend gut gelingen.
Die Staatskapelle feiert ihren Verdi unter einem spitz-präzis dirigierenden Carlo Montanaro, ohne irgendwo zu weich zu klingen. Dynamisch gut abgestimmt sind die Szenen mit dem kleinen Ballorchester hinter der Bühne; die Sänger werden durchs gesamte Stück hindurch auf Händen getragen und nie zugedeckt. Zu recht also am Ende Extra-Appläuse für Ensemble, Chor und alle Solisten – auch wenn das Publikum zwischendurch nur hin und wieder verschämt klatschte und sofort verstummte, wenn Montanaro die Musik weiterstürmen ließ.
Komplett ratlos machte dagegen die Ideenlosigkeit des Inszenierungsteams – Elisabeth Stöppler (Regie), Rebecca Hingst und Annett Hunger (Bühne) und Frank Lichtenberg (Kostüme) – wobei letzterem wenigstens ein paar schicke Roben hie und da gelangen und der zeitlich und örtlich neutralisierte Hofstaat insgesamt einen prachtvoll-farbigen Eindruck machte.
Sowohl die Regisseurin als auch die Bühnenbildnerin scheinen ja ursprünglich ein paar gute Stichpunkte auf ihrem Ideenzettel gehabt zu haben: zum Beispiel, den Tod zu personalisieren und an entscheidenden Bruchstellen der Geschichte körperlich auf der Bühne agieren zu lassen. Die Umsetzung mit einem Tänzer (Lutz Langhammer) war dann so harmlos, schlicht und hölzern wie eine Malgorzata-Chodakowska-Statue auf der Vorstandsetage der örtlichen Sparkasse: etwas "out-of-place" in seiner weißgeschminkten Nacktheit, aber irgendwie doch ästhetisch und sicherlich auch für altersstrenge Vorstandsmitglieder zu ertragen. Schade, dass der Tod mal fehlte, wenn jemand starb, mal auftrat, wenn niemand starb, und am Ende nicht mehr wirklich ins Regiekonzept passte.
Oder die Bühne: was man aus den zwölf völlig geräuschlos sich hebenden und kippenden (!) Bühnenquadraten alles hätte machen können, wurde in einer Szene, da die Plattformen in verschiedenen Geschwindigkeiten fahrstuhlgleich auf- und abfuhren, schmerzlich bewusst. Leider versäumte es die Regisseurin, diese Möglichkeiten im Hinblick auf Entwicklung von Beziehungen, auf Hierarchien, auf Hoheit und Untergebene zu befragen. Auch hier wieder Beliebigkeit: wo die Wahrsagerin Ulrica (Tichina Vaughn) ankündigt, den Höllenfürsten zu befragen, geht’s – sssst – ab in die Höhe. Die gekippte Fläche im Schlussbild, die dieser Tage und allerorten so inflationär als Horizont gebraucht wird, blieb von der Personenführung her nur holprig-stolprig eingesetzt, wie überhaupt Stöppler oftmals hilflos aufgegeben zu haben scheint, wenn mehr als zwei Personen auf der Bühne stehen sollten.
Weitere Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten der Figurenentwicklung – besonders krass sichtbar im Umgang mit einem hilflos auf- und abwandelnden Sohn (Augustin Luft) und seinem Vater, der sich für die Schicksalsarie sein T-Shirt vom Sixpack streift, um es hinterher sofort wieder anzuziehen, verleiteten das Publikum beim Auftritt der Regie-Riege zu einem explosiven, nicht enden wollenden Buh-Gewitter, abgeschmeckt mit ein paar wütend-trotzigen Hurra-Schreiern. Aufgeheizt von einer wohl verzweifelt auf Provokation gebürsteten und trotzdem obskur verklemmten Schluss-Szene des Chors in Unterwäsche, aus dessen Reihen einige Sängerinnen und Sänger am Ende verträumt-meditativ blankzogen, brachte die Stimmung schlussendlich so sehr ans Kochen, dass etwa der Ballettchef des Hauses kurz davor schien, dem vor ihm sitzenden und abfällig kopfschüttelnden Rezensionskollegen handfest eins überzuziehen.
Wer einen szenisch langweiligeren Spielzeitbeginn zu erinnern sucht, muss schon ein paar Jahre zurückgehen. Den »Maskenball« einfach mit geschlossenen Augen zu genießen, wird vielleicht der Vorschlag einer der Lokalzeitungen sein. Aber dann hätten wir’s bitteschön auch konzertant haben können, und der Freistaat eine Menge Geld für Radebeuls darbendes Ensemble gespart…
Weitere Vorstellungen: 3., 6., 9., 12. Oktober 2011