Schwindelfrei mussten die fünf Mägde-Darstellerinnen am Atriden-Hofe schon sein, als sie auf der Bühne der Semperoper zu ersten Mal einen sechs Meter hohen Sprungturm erblickten, auf dem sich das Schicksal der Elektra in Richard Strauss‘ gleichnamiger Oper abspielte. Hans Dieter Schaal hatte für Ruth Berghaus im Herbst 1986 dieses Bühnenbild erdacht, weil es notwendig wurde, die Sächsische Staatskapelle auf der Bühne zu platzieren. Durch die denkmalgerechte Rekonstruktion der Maße des Hauses kam das große Strauss-Orchester nicht mehr im Orchesterraum unter, weil die von Schuch und Strauss durchgesetzten Vergrößerung des Grabens 1985 nicht beachtet wurde. (Diesen Mangel hat man Mitte der 90er Jahre beseitigt.) Der sportlichen Regisseurin Berghaus kam dieses Bühnenbild sehr entgegen, und diese Metapher für die Fallhöhe der Personen des Dramas war zugleich typisch für das Verständnis von Oper, wie es Ruth Berghaus auf den europäischen Bühnen umsetzte.
Irene Bazinger hat nun 30 Kolleginnen und Kollegen aus dem deutschen Opern- und Schauspiel-Betrieb um Erinnerungen an die Berghaus gebeten und als „Geschichten aus der Produktion“ zusammengestellt. Sie ergeben ein lebendiges Bild dieser kompromisslosen Frau, die ein unverwechselbares Profil für ihre Inszenierungen gefunden hat. Wer kann schon von sich behaupten, dass eine Inszenierung, die manchmal kaum über eine Saison hinaus Bestand hat, 40 Jahre im Repertoire blieb wie Rossinis „Barbier von Sevilla“, der von 1968 bis ins Jahr 2008 an der Berliner Staatsoper zu sehen war.
Aus den Berichten der Intendanten, Dirigenten, Regisseure, Dramaturgen, Bühnenbildner, Assistenten, Sängerinnen und Schauspieler entsteht ein vielfältiges Portrait von Ruth Berghaus, das gleichwohl einige Konstanten hat: ihre Neugier, ihr stetes Nachfragen, ihr scharfer Verstand, ihr gutes Gedächtnis für Gesten, ihre Beharrlichkeit, ihre hohe Lern- und Leistungsbereitschaft, die sie uneingeschränkt von jedem anderen auch erwartete, aber auch ihr unveränderliches Festhalten an der DDR, obwohl ihr engstirnige Genossen mehr als einmal das Leben schwer machten. Wir erfahren durch die persönlichen Berichte vieles aus dem unmittelbaren Umfeld der Regisseurin, wie gründlich eine Inszenierung, zumeist ein Jahr vor der Premiere, vorbereitet wurde, welchen Stellenwert das Bühnenbild, die Musik, die Körperbewegung hatten. Sie wollte alles über die musikalischen Abläufe wissen, ließ sich von Fachleuten beraten, ließ sich von den Dirigenten die ganze Oper auf Band einsingen, um dann in den Inszenierungen die Abläufe nach ihrem choreografischen Formbewußtsein zu organisieren.
Von Palucca ausgebildet, wurde man durch die Choreografie der Schlachtszene in Brechts „Coriolan“-Adaption auf Ruth Berghaus aufmerksam. Mir sind die Bilder des Kampfes zwischen Ekkehard Schall (Coriolan) und Hilmar Thate (Aufidius) noch recht gegenwärtig, obwohl ich mir damals, 1964, nicht vorstellen konnte, dass für diese Szene extra Hand angelegt wurde. Von diesem Moment an nahm man Ruth Berghaus mehr zur Kenntnis, nachdem Joachim Herz sie schon ab 1950 mit List in seinen ersten Inszenierungen als Choreografin unterbrachte.
Ihre ersten Erfolge als eigenständige Regisseurin konnte sie indessen mit der „Verurteilung des Lukullus“ an der Berliner Staatsoper feiern. Mit diesem Stück ihres Ehemanns Paul Dessau hat sie sich mehrfach auseinandergesetzt. Nach ihrer Entlassung als Intendantin des Berliner Ensembles, das sie von 1971 bis 1978 leitete, ließ man sie zunehmend in der Bundesrepublik Deutschland arbeiten, in der Hoffnung, dass sie dort bliebe. Aber sie nahm ihre Privilegien der Westreisen und -kontakte durchaus gern an und „vergaß“ manchmal, dass andere nicht diese Möglichkeiten hatten.
Was bleibt, sind die Erinnerungen. Kaum eine Inszenierung ist so dokumentiert, dass sie der Nachwelt in technisch ausreichender Weise überliefert wurde. Das galt nicht nur für den großartigen „Ring des Nibelungen“, den Joachim Herz um 1976 mit dem kongenialen Bühnenbildner Rudolph Heinrich in Leipzig vorstellte, sondern auch für den Berghaus-„Ring“ in Frankfurt am Main, weil der damalige Unterhaltungschef des ZDF, wie der Dirigent Michael Gielen berichtete, alle Opernaufführungen in modernen Inszenierungen boykottierte…
Eines ist sicher: Selbst wenn manche Bilder ihrer Inszenierungen ungewöhnlich waren, so konnte man doch nie eine szenische Lösung finden, die im Widerspruch zur Musik gestanden hätte. Ruth Berghaus kam es darauf an, dass das Theater aufklärerisch im politischen Sinne wirken sollte. Dafür suchte sie in den klassischen Opernwerken bei den Komponisten und Librettisten Verbündete.
Das Buch reflektiert auch die Rolle der Kunst in einer Diktatur: Sich gegen Widerstände von Dummheit, Ignoranz und Spießertum zu stellen, mit klugen Gedanken und Bildern die Bevormundung auszuhebeln, war ihre erste Bürgerpflicht.
Heute im Zeitalter der Beliebigkeit kann man schon mal Elisabeth von Thüringen im neuen Bayreuther „Tannhäuser“ ins Gas (Verzeihung: Biogas) schicken. Da wird gebuht, aber so richtig bringt das kaum noch jemanden auf die Palme. Das war zu Ruth Berghaus‘ Zeiten bei weitaus harmloseren Bildern anders.
Eine empfehlenswerte, anregende Lektüre.
Regie: Ruth Berghaus
Geschichten aus der Produktion
Herausgegeben von Irene Baziner
Rotbuch Verlag 2010