Steve Reich, in Ihrem letzten Stück „WTC 9/11“ haben Sie die Zerstörung des World Trade Centers verarbeitet. Wie kamen Sie nach nunmehr zehn Jahren auf diese Idee?
Vor einem Jahr bat das „Kronos Quartet“ um ein Werk. Ich wusste zunächst nicht, was es werden würde. Aber ich wusste, immer wenn mich das Quartett um etwas bittet, wird etwas Gutes draus! Und plötzlich merkte ich, dass da in mir noch unerledigte Dinge waren. Als vor zehn Jahren die Flugzeuge in das WTC krachten, befand sich meine Familie in unmittelbarer Nähe zum Ground Zero. Ich hielt den ganzen Tag telefonischen Kontakt. Für mich ist dieser Tag kein Medien-Event, sondern auch privat ein bestürzender Einschnitt.
Das Werk „WTC 9/11“ basiert auf in Musik gespiegelter Sprache. Sie haben dafür Funksprüche jenes Tages in Musik gesetzt…
Exakt. Zuerst hören wir die Fluglotsen – sie sagen, dass die Flugzeuge von der geplanten Route abweichen. Die nächsten Stimmen sind die der Feuerwehrleute, von denen viele ihr Leben verloren. Der Ton ihrer Stimme und ihre Sprachmelodie sind sozusagen die Leitposten des Stücks. Neu ist, dass die letzten gesprochenen Silben in die Musik hinein verlängert werden. Das Stück klingt dadurch, als wäre es von dichtem Rauch eingehüllt.
Sie sagen, es sei ein sehr persönliches Stück. Ist es auch politisch?
Überhaupt nicht. Ich mag politische Gefühle haben, aber ich bin kein Aktivist. Kunst hat leider überhaupt keinen Einfluss auf die Politik. Picassos größtes Werk „Guernica“ ist als Kunstwerk unübertroffen. Als ein politisches Werkzeug ist es ein totaler Reinfall. Nach Guernica zerbombten die Deutschen Coventry, die Alliierten zerstörten Dresden; und fundamentale Muslime unserer Tage sind darauf bedacht, möglichst viele Zivilisten zu töten.
Sie glauben nicht, dass die Kunst hilft, mit Weltgeschichte in Beziehung zu treten?
Nein, das glaube ich nicht. Schauen Sie doch, was in den letzten zehn Jahren passiert ist. London, Madrid, Bali. Die Schüsse in Mumbai. Der „Unterwäsche-Bomber“ Umar Farouk. Der Fundamentalist am Times Square, wo am 1. Mai 2010 nur ein Blutbad verhindert wurde, weil seine Bombe nicht hochging. „Nine Eleven“ ist ja nicht singulär, es ist nur Teil eines Kontinuums.
Also, wenn ich beispielsweise die Matthäus-Passion höre, denke ich nicht an Bach, sondern eher an Religion und Menschlichkeit…
Ich kaufe Ihnen dieses Kirchending nicht ab. Bitte fragen Sie mich nach etwas anderem, fragen Sie mich nach meiner Musik.
In Dresden erklingt dieser Tage vieles von Ihnen. Kennen Sie die Interpreten? Der Cellist Jan Vogler wohnt in New York, vielleicht haben Sie sich einmal getroffen?
Ich kenne 99 Prozent der Künstler, die meine Werke spielen, nicht. Ich bin ein viel beschäftigter Komponist. Besuchen Sie meine Webseite und gucken Sie mal, wie viele Konzerte da stehen.
Arbeiten Sie an neuen Werken?
Durch die Feierlichkeiten um meinen Geburtstag und das viele Reisen ist es momentan fast unmöglich, viel zu komponieren. Aber ich habe einiges im Kopf, beispielsweise mal etwas mit Songs von Radiohead zu machen. Und ich denke nach über eine Kollaboration mit einem DJ, nein, besser, mit einem elektronischen Musiker. Die vorliegenden Aufträge stammen von der London Sinfonietta und einer amerikanischen Gruppe namens „Alarm Will Sound“. Aber so richtig spruchreif ist noch nichts. Lassen Sie sich überraschen.
Ihr umfangreiches Archiv wurde von einer Stiftung in Basel aufgekauft. Damit geht Ihr Musik-Erbe nach Europa – warum?
Weil die Paul-Sacher-Stiftung einen sehr, sehr guten Preis bezahlt hat. Es gab auch amerikanische Interessenten. Aber in Basel bin ich bei Bartok, bei Feldman, bei Carter… Ich kann mich glücklich schätzen.