Den "vielgeneigten Leser" bat 1816 der Herausgeber des fantasiesprudelnden Märchens »Nußknacker und Mausekönig«, "ohne weitere Ansprüche gemütlich das hinzunehmen, was ihm anspruchslos aus treuem Gemüt dargeboten wird." Wohlan in diesem Sinne zur Semperoper-Premiere des Tschaikowski-Klassikers »Der Nußknacker«!
Nach einem tiefen Seufzer, so beginnt dies Märchen bei E.T.A. Hoffmann, rief Töchterchen Marie angesichts des übervollen Gabentisches: "Ach, wie schön – ach, wie schön." Ähnliches mochte den Premierenbesuchern auf der Zunge liegen, als der Vorhang sich öffnete und Roberta Guidi di Bagnos Bühnenprolog sich entfaltete: das Kronentor des Zwingers war da zu sehen, ein riesiger Schwibbogen spannte sich über einen hübschen Weihnachtsmarkt, und sogleich begann es auch fünfmarkstückgroße Flocken zu schneien.
Adventlicher Zuckerschock
Umso reichhaltiger entfaltete sich dann Bild auf Bild, Akt auf Akt; das Wohnzimmer der Stahlbaums (Damen mit Lorgnon, Herren im Gehrock, die alsbald Formation tanzten), ein Winter-Zauberwald wie aus dem russischen Märchenfilm, das "Land der Süßigkeiten" wie einem Tim-Burton-Film entlehnt (nur leider nicht so bissig die Figuren)… Herzen gingen auf, Szenenapplaus brandete immer munterer für immer neue Tänzer, die diese Welten bevölkerten.
Aaron S. Watkin und Jason Beechey haben ihren Choreografien so viel Zucker gegeben, dass man bald wie im Rausch dasitzt und die immer neuen Exzesse einfach an sich vorüberrieseln lässt, ohne den einzelnen Choreografien überschwängliche Aufmerksamkeit zu widmen. "Für unverständige Kinder ist solch künstliches Werk nicht," sprach noch verdrießlich der Obergerichtsrat Droßelmeier zu den Eltern, als die Kinder über seinem elaborierten Machwerk aus immer neuen Figuren und Szenen die Geduld und die Lust verloren. Hier jedoch ist für jeden Geschmack etwas dabei:
Zuckerstangenarchitektur, Engelsflügelchen, ein orientalisches Divertissement, fiese Mäuse, ein fahrbares Chaiselongue, schließlich der Grand pas de deux von Zuckerfee und Gemahl: peng, peng, peng zünden die Choreografie- und Ausstattungsknaller, und bomben den "vielgeneigten" Zuschauer bald in ein süßes Zuckerkoma, indem zunehmend egal wird, ob die Geschwindigkeit der Tänzer mit dem rasanten Tempo der Staatskapelle unter Vello Pähn noch konform geht.
Ein Augenfest mindestens also für Kinder zwischen sechs und zwölf, die bekanntlich Süßes gern und bis zum Umfallen konsumieren. Ein Ohrenfest für diejenigen, die die Langversion des Balletts vielleicht zum ersten Mal hören (wie ich) und neben den altbekannten Hits so manche musikalische Überraschung entdecken können. Schüler und Studenten der Palucca Hochschule so zahlreich auf der Bühne der Semperoper: dafür nimmt man schon vieles hin. Gefühlte hundert Tänzer stehen da am Ende im herzlichen Applausregen, dazu kommen die Mädchen des Philharmonischen Kinderchors, deren honigselige Terzen zwischendurch aus den Proszeniumslogen tönten.
An dem vielen vordergründigen Süßkram schlucken müssen vielleicht nur diejenigen, die sich auf ein hintersinniges Märchen für Kinder wie Erwachsene gefreut haben. Nein, hintersinnig ist hier leider nichts. Dieser "Nußknacker" ist von vorn bis hinten auf Erfolg gebürstet und gestriegelt. Allenfalls so kurz vor Weihnachten ist das vielleicht mal erlaubt.
PS: Ein bisschen peinlich für den Dramaturgen Stefan Ulrich, aber irgendwie auch bezeichnend für die Inszenierung: im Programmheft ist ein Stollenrezept abgedruckt, das als Zutat "Schweineschmalz oder ausgelassenen Kalbsnierenteig" nebst 2 Eigelb auflistet. Würg! Wie Dresdner Christstollen richtig geht, steht beispielsweise hier.
Nächste Aufführungen: 28., 29. November, 3., 5., 9., 13., 23., 25., 27. Dezember 2011. Und da die meisten Karten für diese Vorstellungen bereits verkauft sind, noch ein Tip: Der TV-Mitschnitt ist am 19. Dezember um 22.50 Uhr auf arte zu sehen.