DEREVO, das ist russisch und heißt der Baum. DEREVO, das ist der Name einer ganz besonderen Tanz-Theater-Gruppe, die 1988 unter der Leitung von Anton Adassinsky in St. Petersburg (damals noch Leningrad) gegründet wurde. DEREVO steht für die neue russische Avantgarde dieser Jahre, die in Zeiten von Glasnost und Perestroika möglich wurde. Über Prag, Amsterdam und Florenz kam die Gruppe 1996 nach Dresden und ist seitdem hier ansässig, unternimmt von hier aus Tourneen um die Welt bringt von internationalen Festivals immer wieder Preise und Auszeichnungen mit.
DEREVO ist seit 2003 in Hellerau zu Hause, im Großen Saal des Festspielhauses und auf dem Gelände werden die Produktionen gezeigt. Tradition sind die Aufführungen kurz vor Weihnachten und zwischen Weihnachten und Neujahr.
DEREVO, dieser Baum hat seine Wurzeln in der russischen Avantgarde der 20er und 30er Jahre, die besonders stark war in St. Petersburg. Man suchte nach neuen Formen der Kunst, brachte Wort, Bild, Musik und Film zusammen und schuf sich so Freiräume. Der Fantasie und der Poesie waren keine Grenzen gesetzt, das war keine Flucht aus dem Alltag, auch nicht dessen Überwindung, beides war ja nicht möglich, es war der künstlerische Umgang mit dem Alltäglichen. Viele dieser Künstler, die sich als Oberiuten (Vereinigung der realen Kunst) zusammengeschlossen hatten, etwa Daniiel Charms, fielen stalinistischen Repressionen zum Opfer.
Etwas ähnliches, ohne dass man voneinander wusste, entstand in Frankreich, in der DADAISMUS-Bewegung.
Oberiuten und DADA hatten Manifeste, und wenn im Manifest von DEREVO steht, dass die Mitglieder der Gruppe keine Schauspieler sind, sondern dass sie ihre Tätigkeit als Wesenszug ihrer Existenz sehen, dann lässt das auf eine gewisse Verwandtschaft mit den genannten schließen. Es geht eigentlich nicht darum, Kunst zu produzieren und vorzuführen, sondern künstlerisch zu existieren, wenn wir dabei sind als Publikum haben wir Anteil an den Lebensformen dieser künstlerischen Existenzen.
Die Wurzeln von DEREVO
Davon und noch mehr sieht und erfährt man in der man, in der Neufassung des Stückes „Mephisto-Waltz“, das jüngst in Hellerau aufgeführt und vom Publikum gefeiert wurde. Hier wird, so sagt es ja der Titel, getanzt. Das sind Lebenstänze, das sind Totentänze. Und hier sind noch weitere DEREVO-Wurzeln erkennbar, nämlich wenn etwa Anton Adassinsky sich mit bloßen Füßen zu Walzerfragmenten von Brahms bewegt, dann kann man gewiss an die Revolution im Tanz denken, die durch die barfußtanzende Isadora Duncan in die Welt kam. Wenn wir Adassinsky und seine Mittänzerinnen bei ihren eckigeren Bewegungen im Profil sehen, dann ist es nicht falsch, an die Revolution des Balletts zu denken, die von Russland aus um die Welt ging, nämlich mit Vaclav Nijinsky und der Ballet russes. Auch nach Dresden kam die weltbekannte Kompanie.
In Mephisto-Waltz sind die Teufel Engel und die Engel Teufel und der Mensch tanzt sich als armer Teufel durchs Leben, von beiden Kräften angezogen, im Bild, nach oben und nach unten. Er schwirrt wie ein Schmetterling ums Licht, er wälzt sich im schmutzigen Schlamm der Straße. Er ist, und so ein eindrucksvolles Bild mag als Beispiel stehen, eine gekreuzigte Kreatur, einsam wie eine Vogelscheuche im endlosen Sonnenblumenfeld. Er hat am Körper die Merkmale des Verfalls, auf seinem Kopf ein Vogelnest, das ist Dornenkrone und Heiligenschein zugleich.
Die Bilder bei DEREVO sind im besten Sinne handgemacht und von herzlicher Schlichtheit. Damit wiedersetzt sich die Kompanie allen modischen Trends und bleibt so paradoxerweise näher an der Zeit als alle, die in blindem Eifer jeder Mode des Zeitgeistes huldigen.
DEREVO ein- oder zuzuordnen fällt schwer. Im internationalen Vergleich, da mag man an die melancholischen Clowns von Slava Polunin ein, die kommen auch aus St. Petersburg, scheinen aber doch stärker kommerziellen Tendenzen anheimgefallen zu sein. Stärker noch mögen die Verwandtschaften mit den bildpoetischen Ansätze des teatrs gardzienice von Wlodzimierz Staniewski der Katholischen Universität Lublin sein oder mit denen des Theaters von Tadeusz Kantor in Krakow. Wobei sich DREVO eine unbedingte künstlerische Eigenständigkeit erworben hat. Manche mögen das als Eigenwilligkeit sehen und wollen nicht sehen was da geschieht. Und das ist ja auch ein Erfolg, „Ja“ sagen zu müssen oder „Nein“, besser als na-ja-vielleicht-oder-eventuell….Man muss sich schon zu DEREVO verhalten, hier wird uns etwas zugemutet, also werden wir als Zuschauer ernst genommen.
In St. Petersburg hat Anton Adassinsky eine Schule gegründet und vermittelt die ästhetischen DEREVO-Grundlagen an junge Schauspieler, Tänzer und Musiker. Wenige wissen, dass er seit 2000 beim weltberühmten St. Petersburger Ballett des Mariinski Theaters die wohl außergewöhnlichste Besetzung des schrulligen Drosselmeier in Tschaikowskis „Der Nussknacker“ ist.
Im neuesten Film von Alexander Sokurow „Faust“ – nicht unbedingt nach Goethe – spielt er die Rolle des Mephisto, allerdings als armer Wucherer, seine Frau im Film ist Hanna Schygulla. Im Sommer erhielt der Film beim Festival in Venedig einen goldenen Löwen. Deutscher Kinostart ist im Januar, ab 19. Januar 2012. Die offizielle Premiere des Films findet schon am 18. Januar in Dresden, im Filmtheater Ost statt. Zuvor aber, am 26., 27. und 28. Dezember, zeigt DEREVO in Hellerau die neueste Produktion, „Tropfen im Ozean“ – Petrowitsch auf dem Weg zu Gott, ein nostalgischer Beitrag zu 50 Jahren bemannter Raumfahrt.