"Komplex" nannte der Leiter des Dresdner Kammerchors, Hans-Christoph Rademann, kurz vor Weihnachten die Verhandlungen um die Nachfolge von Helmuth Rilling als Leiter der Internationalen Bachakademie Stuttgart (IBA) gegenüber der Stuttgarter Zeitung. Wer Rademanns zurückhaltende Art kennt, musste schlussfolgern: hinter den Kulissen ging es offenbar hoch her. Allein die Indiskretion eines Mitglieds der Findungskommission*, Rademann selbst als Favoriten öffentlich zu nennen, bevor der Vertrag unterschrieben war, spricht Bände.
Wer, fragt sich, sollte hier unter Zugzwang gesetzt werden: Rilling selbst, der im Mai 2013 achtzig Jahre alt wird und bis dahin walten wollte? Oder stand die Nachricht im Zusammenhang mit einer weiteren wichtigen Stuttgarter Personalie, der Intendanz der Bach-Akademie? Der Vorstand der Akademie, namentlich dessen Vorsitzender Berthold Leibinger, hat den Vertrag von Christian Lorenz nicht verlängert. Im Februar 2013 muss der amtierende Intendant, der seit seinem Amtsantritt 2008 frischen Wind mitbrachte, mit ungewöhnlichen Ideen punktete und ein jüngeres Publikum gewinnen konnte, seinen Posten wieder räumen.
Von außen – jedenfalls von Dresden aus – müssen die Vorkommnisse in Stuttgart als Machtspiel dreier Protagonisten erscheinen: Rilling, Lorenz – und Leibinger. Rilling, der die Akademie 1981 gründete, ist bekümmert, dass er (laut Satzung allerdings zu Recht) nicht der Findungskommission angehört. Ihm ist damit de facto die zukünftige künstlerische Ausrichtung der IBA aus der Hand genommen, seine Autorität nicht zuletzt durch die Kündigung des Intendanten, mit dem er sich inhaltlich völlig einig sah, in Frage gestellt. Leibinger, selbst ein wichtiger Finanzier der Akademie, hätte wohl gern mehr Einfluss auf inhaltliche Dinge; er betrachtet mithin die weitreichenden inhaltlichen Vorstellungen und Planungen des 1961 geborenen Lorenz als anmaßend. Lorenz wiederum könnte sich Hoffnungen gemacht haben, die künstlerische Leitung der IBA zukünftig gar selbst zu übernehmen. Eine künstlerische Ausbildung als Dirigent, Meisterkurse und Tätigkeiten als Kapellmeister hätten ihn dafür befähigt und lassen zumindest aus Sicht des Vorstands zukünftige Machtkämpfe zwischen Intendanz und künstlerischer Leitung als wahrscheinlich erscheinen.
Die Deutsche Presseagentur vermeldete nun, Rilling habe den Rücktritt des gesamten Vorstands gefordert – ansonsten werde er selbst sich sofort zurückziehen. Wie auch immer der Vorstand reagiert: nach außen hin ist die Internationale Bach-Akademie durch die internen Machtspielchen beschädigt. Der neue Leiter – ob nun Rademann oder ein Mitbewerber – wird wohl entweder überstürzt die Nachfolge eines im Streit gegangenen Dirigenten antreten oder sich nicht nur in absehbarer Zeit mit einem anderen Intendanten, sondern auch mit einem neuen Vorstand arrangieren müssen. In jedem Fall gehen er und die Akademie einer in vieler Hinsicht unsicheren Zukunft entgegen.
Ob Hans-Christoph Rademann, der ja doch eigentlich von allen Seiten – auch von Rilling – als idealer Nachfolgekandidat gesehen wurde – sich auf dieses Abenteuer einlassen wird, ist nun fraglicher denn je geworden. Eine Pressekonferenz am 16. Januar soll, wenn der Termin nicht verschoben wird, Aufklärung bringen.
*Der Findungskommission gehören an: Pamela Rosenberg (früher Intendantin der Berliner Philharmoniker), Rüdiger Nolte (Rektor der Musikhochschule Freiburg), Felix Fischer (Orchestermanager des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart), Christoph Wolff (Leiter des Bach-Archivs Leipzig) und Andreas Mölich-Zebhauser (Intendant des Festspielhauses Baden-Baden).
Factsheet zur Bachakademie: pdf
Stuttgarter Nachrichten: "Der Streit in der Bachakademie eskaliert" (3. Januar 2012)
Stuttgarter Zeitung: "Helmuth Rilling droht mit Rücktritt" (3. Januar 2012)
dpa-Meldung: "Streit um das Rilling-Erbe spitzt sich zu" (3. Januar 2012)
Badische Zeitung: "Rilling grollt im Abseits" (5. Januar 2012)
(Teaserfoto: Matthias Heyde)