Christian Thielemann, unlängst hat der siebenundachtzigjährige Georges Prêtre die Staatskapelle dirigiert; Sie saßen im Publikum. Was kann ein Dirigent wie Sie von ihm eigentlich noch lernen?
Dass es Zeit braucht, dahin zu kommen, wo er jetzt ist. Ein junger Mann könnte so auf Andeutungen reduziert nicht dirigieren. Die Musiker würden fragen: sag mal, Junge, kannst du keinen anständigen Viervierteltakt schlagen? Erst im Alter kann man sich das erlauben. Ich hoffe, dass ich da auch mal hinkomme.
Und was können junge Dirigenten von Ihnen lernen?
Ich bin halb auf dem Weg. Je erfahrener ich bin, desto experimentierfreudiger werde ich. Je sicherer man wird, desto mehr neue Sachen kann man ausprobieren. Ich bin ja auf der Suche nach manchen Dingen, kann neues Repertoire in Ruhe entdecken. Wissen Sie, das ist doch ein Fluch – eine ganze Generation von Dirigenten zwischen dreißig und fünfzig fehlt. Heutige Dirigenten werden viel zu früh in den Beruf geworfen. Ich bin ein schlechtes Beispiel: mit neunundzwanzig war ich GMD, dann kam mit einem Mal Columbia Artists an, ich war schnell an der MET… Ich bin aber immer wieder treu nach Nürnberg zurück. Ich dachte, dass ich mir das Repertoire noch erwerben müsste.
Sollten sich Künstler mit ihren Karrieren mehr Zeit lassen?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein guter Sänger lange unentdeckt in den Silberschächten der deutschen Provinz schlummert – weggesperrt von bösen Intendanten und Generalmusikdirektoren. Das einzige, was passieren kann: dass man ihn zu früh verheizt! Das ist ein grausamer Beruf. Wir werden sofort weggeworfen, wenn wir nicht mehr können. Allein die Tatsache, wie Leute der Presse ausgesetzt sind… Wenn man jung ist, dann können vier oder fünf vernichtende Kritiken einen ganz erheblich beschädigen. Ich würde sagen: schreibt nicht zu gut, macht sie aber auch nicht fertig. Mit hymnischen Besprechungen nützen sie ihm nicht – die Leute werden noch höher geschossen. Man müsste viel liebevoller mit ihnen umgehen: eher väterlich ermuntern und liebevoll kritisieren!
Künstler werden aber auch irgendwie aggressiver vermarktet…
Heutzutage lassen sich Sängerinnen fast im Negligé fotografieren. Wo kommen wir denn hin? Das ist so sexistisch, wie sich die Mädel sich auf den Covern räkeln…
Kommen wir zum Dirigieren zurück. Prêtre, Masur, Colin Davis – das sind autoritäre Persönlichkeiten. Ist das ein überkommendes Dirigentenbild?
Wenn Ihnen ein Dirigent erzählt, es ginge ums Team, ist das Quatsch. Das moderne Dirigentenbild – ich kann es nicht mehr hören. Das ist eine leichte Unwahrheit. Natürlich will ein Orchester, dass ein Dirigent sagt, wo es langgeht. Bloß keine Führerfigur, sagten die 68er…. Merkwürdigerweise muss man dann doch Chef sein.
Erstaunlich ist aber doch, wie wenig Sie eigentlich "dirigieren". Manchmal reicht es, wenn Sie die Augenbrauen hochziehen, und die Musiker wissen, was sie tun müssen. Das hat etwas mit Vertrauen zu tun, oder?
Musikmachen geht nicht ohne Vertrauen. Natürlich hat man Angst, sich zu vertun, etwa die Auftakte so schlecht zu geben, dass alles auseinanderbricht. Ich sage: Vorsicht vor diesen Kumpelmaestri! Natürlich müssen Sie auf den Klang Einfluss nehmen – nicht als Kumpel, aber als Freund, als Liebhaber des Orchesters!
Ihr Repertoire ist in Dresden bereits sehr viel breiter geworden. Dennoch, gibt es Komponisten, an die Sie überhaupt nicht herankommen, die nicht zu Ihnen sprechen?
Wenn wir noch einmal auf das Prêtre-Konzert mit Mahlers "Erster" zurückkommen: Mahler spricht zu mir, aber es gibt eine ganze Menge Leute, die damit so gut sind, dass ich denke: Lass dir damit noch Zeit. Auf dem Beethoven-Brahms-Schubert-Sektor dagegen ist auch bei den jüngeren Kollegen nicht so viel los.
Sie haben in Dresden schon angedockt, dennoch gibt es noch eine offizielle Amtseinführung. Bei ihrem Vorgänger war es eine Inthronisierung – was wünschen Sie sich?
Dass das wächst und gedeiht. Musikalisch ist es ja eigentlich schon passiert. Und auch sonst fühle ich mich hier schon völlig zuhause. Da brechen wahrscheinlich meine sächsischen Gene durch!
Haben Sie schon ein sächsisches Leibgericht für sich entdeckt?
Diese Quarkkeulchen… Die Gefahr, dass man hier deutlich zunimmt, ist allerdings da. Herr Morgenstern, wie schaffen Sie es eigentlich, so schlank auszusehen?
Die Fragen – bis auf die letzte – stellten Jörg Schurig und Martin Morgenstern.