Das Jahr fängt gut an. Das Neujahrskonzert der Staatsoperette präsentiert ein Programm der Extraklasse. „Alles Rhythmus“ ist das Motto eines klug und witzig zusammengestellten Programms. Chefdirigent Ernst Theis ist in seinem Element, die Damen und Herren des Orchesters sind gut aufgelegt, unterhaltende Highlights aus der Alten und Neuen Welt, dabei Kuriositäten wie Leroy Andersens „Die Schreibmaschine“ für den tippenden Solisten Ulrich Mader. In Malcolm Arnolds ganz großer Festivalouvertüre bedienen die Solisten Staubsauger; Intendant Wolfgang Schaller brilliert am Bodenreinigungsgerät. Abgeschossen werden alle, der Colt ist das Instrument des Dirigenten. Für Ernst Theis, der mit Ende der nächsten Saison Dresden verlässt dürfte es das letzte Neujahrskonzert gewesen sein. Im Linzer Brucknerhaus präsentierte er sich vergangenen Herbst als Mahler-Interpret, und am 19. Januar debütiert er am Pult der NDR-Radiophilharmonie.
Der freien Dresdner Tanzszene gelang in der Scheune mit „Handkes Weiberabend“ von der Kompanie „mind_the_gut“ ein verheißungsvoller Start. „Interaktives Tanztheater“ nennt die Choreografin Johanna Roggan ihre erste Kreation, sie kooperiert mit der Trans-Media-Akademie Hellerau, der Sound stammt von Siggy Blooms. Mit drei Tänzerinnen und verblüffenden medialen Effekten führt sie uns auf Peter Handkes Platz jener „Stunde da wir nichts voneinander wussten“ und überlässt es im Sinne der Anregung einer Poesie ohne Wort dem Zuschauer selbst, Dialoge zu erfinden, das Schweigen auszuhalten, die Akteure zu begleiten, sie zu verlassen oder sich von ihnen, samt sie begleitenden Klängen und sie umhüllendem Licht, verfolgen zu lassen.
Das Jahr ist jung. Der Kalender hat noch Lücken. Noch ist Zeit zu hören, zu sehen und zu lesen, was zu Weihnachten ins Haus kam. Zum Beispiel als Nachklang zum Mahler Jahr 2011 eine CD der Reihe „Resonance“ mit historischen Aufnahmen. „Das Lied von der Erde“, veröffentlicht 1957 mit Nan Merriman und Ernst Haefliger, dazu „Lieder eines fahrenden Gesellen“ mit Heinrich Schlusnus, auf jeden Fall vor 1951 aufgenommen, denn in diesem Jahr schon zog sich der Sänger aus gesundheitlichen Gründen zurück, ein Jahr später starb er im Alter von 64 Jahren. Berührende Gesangskunst. Nostalgische Anflüge sind nicht zu vermeiden. Die amerikanische Mezzosopranistin Nan Merriman, geboren 1920, ausgebildet bei Lotte Lehmann, konnte mit ihrer schlanken, warm timbrierten Stimme eigentlich alles singen, Bach, Gluck, Rossini, Verdi, auch Bizet und Mozart auf jeden Fall, französische Lieder gehörten in ihr Repertoire, dem unterhaltenden Genre verschloss sie sich nicht. Laurence Olivier tourte mit ihr und seiner Frau Vivien Leigh. Merrimans „Der Abschied“ in „Das Lied von der Erde“ mit dem Concertgebouworkest unter Eugen Jochum setzt bis heute ebenso Maßstäbe wie der Schweizer Ernst Haefliger (1919 bis 2007) mit seiner Interpretation des mörderischen Tenorparts. Die Klarheit des Singens zeichnet ihn aus, technische Probleme scheint er nicht zu kennen, Haefliger will es nicht „schön“ machen, sein Ton kann grell und schneidend sein, und so trifft er den Ton von Mahlers großem „Trinklied vom Jammer der Erde“, ohne auch nur einen Moment jämmerlich zu sein.
Wenn schon kein Schnee, dann doch wenigstens ein Eisläuferballett: Frederick Ashtons „Les Patineurs“, die Divertissements und „Scènes de Ballet“ mit The Royal Ballet London sind bei Opus Arte als DVD erschienen. Eine Aufnahme, die nicht nur eingefleischte Ballett-Fans in beste Stimmung versetzen dürfte. Ausgesprochen charmant ist diese schwebende Fantasie eines dämmernden Winterabends auf dem Eis von 1937, bei der es Ashton schaffte, mit einer raffinierten Kombination von Überleitungsschritten ohne Kufen oder versteckte Rollen das Dahingleiten auf glatter Fläche zu imaginieren. Einen Pas de deux kann man nur offenen Mundes bestaunen, und bei dem Mädchen in Blau und seinen 28 Fouttés, was so viel bedeutet wie gepeitscht, jenen irren Drehungen auf dem Standbein mit dem Spielbein als „Propeller“ vergisst man schon mal zu atmen. Aber gemäß dem Sujet, einem winterlichen Vergnügen auf dem Eis, verbreitet diese Choreografie alles andere als Hektik. Das liegt natürlich nicht zuletzt an den grandiosen Tänzerinnen und Tänzern im Londoner Royal Opera House, die mit Ashtons Technik, Brillanz bei vornehmer Zurückhaltung, bestens vertraut sind. Allein aber wegen Ashtons genialer Hommage an die barfüßige Tanzrevolutionärin des letzten Jahrhunderts, „Five Waltzes in the Manner of Isadora Duncan“, lohnt diese DVD, jedenfalls wenn sie so getanzt wird wie hier von Tamara Rojo. Als Zugabe „Frühlingsstimmen“, Walzer-Delirien von Johann Strauß, hinreißend getanzt von Leanne Benjamin und Carlos Acosta, Schweben, Springen, Heben, Drehen und vor allem Ashtons gefürchtete „Lifts“, bei denen der Ballerino die Ballerina wirklich nur einige Millimeter für längere Passagen über dem Boden schweben lässt.
Derzeit brilliert Katherina Markowskaja in München mit ihrem Tanzpartner Lukás Slavický in diesem Wahnsinnsstück. Ich habe sie 13 Jahre gerne beim Dresdner Semperoper Ballett erlebt und bewundert; oftmals hat sie mich zutiefst berührt. Jetzt tanzt sie als gefeierter Gast beim Bayerischen Staatsballett wieder ihre Dresdner Paraderolle, die Marie in John Neumeiers Version „Der Nussknacker“, als Bianca in Crancos „Der Widerspenstigen Zähmung“ war sie mit den Münchnern in Schanghai, und nun das Debüt, „Very British“, charmant und schwerelos, die Münchner Premiere, am 22. Dezember, ist mein Weihnachtsgeschenk mit Langzeitwirkung.
Herzlich, bis Montag,
Boris Gruhl